Gemälde von Andrea del Sarto:Böse Mädchen kommen ins Museum

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Andrea del Sarto malte dieses unbekannte Mädchen in den Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts. Warum lächelt es so verschmitzt? Um das zu erfahren, muss man lesen, was es in Händen hält: den Canzoniere Francesco Petrarcas. (Foto: imago/Leemage)

Andrea del Sarto malte im 16. Jahrhundert eine junge Frau mit einem aufgeschlagenen Buch. Aber was zeigt das Gemälde wirklich?

Von Kia Vahland

Sie ist sehr jung, und, nun ja, rotzfrech. Wie sie uns anschaut: eine Herausforderung. Keck und fröhlich erfasst ihr linkes Auge den Betrachter; was das rechte treibt, weiß man nicht so genau, denn es liegt leicht verschattet im Dreiviertelprofil. Ihr Haar ist im Nacken gebunden, die Brosche sitzt akkurat, das weiße Hemd und das blaue Seidenkleid waren sicher teuer. Brav sollte sie dasitzen, ein Mädchen aus gutem Haus, das darauf wartet, verheiratet zu werden. Noch wenige Jahrzehnte zuvor hätte man eine solche junge Frau keusch im strengen Profil gemalt, ohne Blickkontakt zum Betrachter. Und hätte sie mit bestickten Kleidern und Schmuck behängt, um zu zeigen, was sich ihr Bräutigam alles leisten kann.

Schon weibliche Teenager galten in der frühen Neuzeit in Europa als heiratsfähig. Die Heranwachsende aber, die der Florentiner Künstler Andrea del Sarto (1486 bis 1530) in den Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts malte, denkt gar nicht daran, eine gute Partie für das Leben zu machen. Sie will ihren Spaß. Auf unsere Kosten.

Dass sie etwas im Schilde führt, lässt ihr leichtes Lächeln zwischen den Grübchen ahnen. Was es aber ist, das erfahren nur Betrachter, die sich auf den poetischen Diskurs des frühen 16. Jahrhunderts einlassen. Manieristische Kunst will entschlüsselt werden und doch ihr Geheimnis wahren. Sie richtet sich an gebildete Zeitgenossen, die stolz darauf sind, Anspielungen zu enträtseln. Wer diese um die Ecke gedachte Bildsprache heute noch nachvollziehen will, muss tun, was auch das dunkelblonde Mädchen macht: ein Buch zur Hand nehmen, nämlich den Canzoniere von Francesco Petrarca (1303 bis 1374).

Alles sieht nach Happy End aus. EIne Qual ist die Liebe, aber dann erlöst den Mann eine Frau. Oder?

In den Gedichten beschrieb der Schriftsteller im 14. Jahrhundert sein Liebesleid, als eine schöne junge Frau namens Laura ihn nicht erhörte. Laura nicht nahezukommen, war sein Drama und seine Chance gleichermaßen: Erst die jahrelange Zurückweisung ermöglichte es ihm, seine Gefühle auszuloten und auszudrücken. In Petrarcas Nachfolge entfaltete sich in Europa eine neue Idee vom Individuum. Das Subjekt definiert sich seither nicht mehr nur über Abstammung, Besitz und gesellschaftlichen Rang. Sondern erst im Liebesrausch und Liebeskummer wird der Mensch demnach zum Menschen, zu einem Wesen mit Bedürfnissen und sagbaren Empfindungen.

In den Jahrzehnten vor und nach 1500 elektrisierte dieses Selbstkonzept vor allem junge Adelige und Intellektuelle. 1501 und 1521 erschienen in Venedig neu editierte Druckausgaben des Canzoniere. Es gab ihn nun auch als Petrarchino, als Taschenbuch, so handlich wie das Büchlein, das Andrea del Sarto auf seinem Gemälde abbildet. Wer als Mann etwas auf sich hielt, dichtete den Canzoniere mit eigenen Versen nach und trug dies einer verehrten Frau vor versammelter Salongesellschaft vor.

Allerdings schloss die große Selbstfindung Frauen aus. Manch ein Mann glaubte, diese seien zu Gefühlen gar nicht in der Lage, sie könnten nur kalt sein, nicht aber selber lieben. Dichterinnen wie Vittoria Colonna mühten sich in ihrer Lyrik, das Gegenteil zu beweisen. Doch auch sie wurden von den Kollegen erst einmal nur als neue Lauras verehrt, für ihre Schönheit und Tugend gepriesen, bevor sie außer vergöttert auch verstanden wurden.

Andrea del Sarto malt keine wortmächtige Dichterin, sondern ein Mädchen, das sich seiner jugendlichen Ausstrahlung sehr bewusst ist. Sie hält den Canzoniere aufgeschlagen in Händen. Lesbar ist oben auf der rechten Seite das Sonett CLIII. Petrarcas lyrisches Ich sendet hier Lauras "kaltem Herzen" seine "heißen Seufzer" und fleht sie an, ihm entweder Gnade zu gewähren oder aber ihm zu helfen, sich umzubringen. Nur diese beiden Auswege gebe es aus seinem Schmerz. Die Angebetete sei heiter und ausgeglichen, er aber leide zutiefst. Das scheint zu dem Gemälde zu passen: Fröhlich und unbesorgt wirkt die junge Frau.

Unter diesem Gedicht kann der Betrachter in dem offenen Büchlein Teile des folgenden Sonettes CLIV lesen. Sie stehen rechts unten auf der Seite. Hier beschreibt Petrarca den Lohn der Liebesmüh: Überirdisch schön ist Laura, ihre Augen sprühen vor Güte, sie vernichtet im männlichen Gemüt jede Gier und lässt ihren Partner menschlich und intellektuell über sich hinauswachsen. Dabei überdeckt der ausgestreckte Finger der Gemalten ausgerechnet die Zeile, in der es heißt, der Mann wage nicht, seine Verehrte anzublicken - denn genau das, eine junge Frau anzuschauen, tun die Betrachter des Bildnisses.

Liest man nur die beiden Sonette, so könnte die Geschichte auf ein Happy End hinauslaufen: Eine Qual ist die Liebe, aber wer alle Hindernisse überwindet und das weibliche Herz zu erweichen versteht, der findet schließlich doch das Glück mit einer wunderbaren Frau.

Nur: Der Zeigefinger von Andrea del Sartos bella donna deutet gar nicht auf die beiden Sonette, die auf der rechten Seite des Gedichtbandes zu lesen sind. Er zeigt auf die gegenüberliegende Buchseite, und die ist für den Betrachter des Bildes nicht einsehbar. Um die Tücke des Gemäldes zu erkennen, braucht man einen Canzoniere in einer der beiden venezianischen Petrarca-Ausgaben des frühen 16. Jahrhunderts.

Unter der Fingerkuppe des Mädchens, auf der unteren linken Seite ihres aufgeschlagenen Canzoniere, liegt demnach Sonett CLII. Dort ist keine Rede mehr von Erlösung. Die geliebte Frau habe zwar "eines Engels Leib und Menschenwangen". Doch solche Äußerlichkeiten täuschten, in Wahrheit sei sie auf animalische Art gefährlich und handele im "Tiger- und Bärensinne". Sie locke den Mann mit ihren Blicken und ihrem Charme zu einem einzigen Zweck: um sein Herz zu erbeuten.

Man muss den Canzoniere auswendig kennen oder in ihm nachschlagen, um das Lächeln der gemalten Frau als Falle zu erkennen: Diese Nachfolgerin von Petrarcas Laura zieht den Betrachter an, um ihn auf Bärinnenart zu erledigen. Er wird zur Trophäe, sie triumphiert am Ende kühl.

Malerei täuscht das Auge? So sei es, rufen die Manieristen. Und führen das Publikum hinters Licht

Del Sarto überwindet in seinem lebensgroßen Frauenbild zwar die alte Vorstellung von den immer nur artigen und züchtigen Mädchen. Er erliegt aber der damals heiß diskutierten Idee von der Frau, die Männer lockt und quält, ohne selbst zu lieben. Das eine Vorurteil ersetzt das andere. Bis zur gegenteiligen Annahme, Frauen seien emotionaler und liebebedürftiger als Männer, ist es noch mehrere Jahrhunderte und etliche gesellschaftliche Umwälzungen hin. Im 16. Jahrhundert geben sich die schönen Frauen noch cool (so deuten es männliche Künstler und Dichter jedenfalls). Ebenfalls im Manierismus werden sie als gesellschaftlich einflussreiche Damen bald mit starrer Miene und durchgestrecktem Rücken auf Sesseln thronen und die nun zugeklappten Bücher als Statussymbole herzeigen.

Del Sartos trickreiches Gemälde findet sich heute dort, wo der Manierismus zu Hause ist: in Florenz. Es reist nicht in die Frankfurter Ausstellung, denn es gehört zu den Vorzeigestücken der Uffizien, die sich unter dem vorigen Direktor Antonio Natali wie kein anderes Museum in Europa um die lange vernachlässigte manieristische Kunst verdient gemacht haben. Sie wurde erforscht und restauriert, mit international bedeutenden Sonderausstellungen bedacht und in einer Saalfolge neu gehängt. Das erlaubt Italienreisenden einen frischen Blick: Es gab nicht nur die lieben Madonnen Raffaels, nicht nur Leonardos lebenskluge weibliche Modelle und Tizians sinnliche Verführerinnen. Sondern da waren auch die Manieristen, die ihr Publikum in der ausgehenden Renaissance mit viel klugem Hintersinn beanspruchten.

Ihre Kunst kennt und nutzt den damals verbreiteten Vorwurf, Malerei würde das Auge trügen, sie sei ein Täuschungsmanöver. Genau!, scheinen Manieristen wie Andrea del Sarto auszurufen. Ja, wir locken euch Betrachter in die Falle, so wie es das verschmitzte Mädchen auf diesem Bildnis tut. Und jetzt, liebe Kunstfreunde, macht euch auf die Suche, die Wahrheit hinter unseren Gemälden selbst herauszufinden.

Der Kunstschriftsteller Giorgio Vasari muss etwas von del Sartos Neigung zu scheinbar bösen Frauen geahnt haben, als er 1550 dessen erste Vita schrieb. Dort bindet sich Andrea an eine sehr schöne, aber auch sehr manipulative Gattin, die ihren Mann davon abhält, dem König von Frankreich zu dienen anstatt nur ihr.

Stimmt all das? Oder handelt es sich um misogyne Fantasien? Wir wissen es nicht, denn es fehlen die Aussagen der weiblichen Zeuginnen. Von dem Mädchen, das Andrea del Sarto porträtierte, ist nicht einmal der Name überliefert.

© SZ vom 24. Februar 2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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