Geisteswissenschaften:Real obdachlos

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Nach jahrelangen Querelen wird das Georg-Lukács-Archiv in Budapest geschlossen und der Nachlass eines der großen Autoren der Moderne auseinander gerissen. Die Gründe für die Schließung sind undurchsichtig.

Von Jens Bisky

Seit sechs Jahren steht das Georg-Lukács-Archiv in Budapest unter Beschuss. Mitte März nun hat die Ungarische Akademie der Wissenschaften eine Erklärung über ihren Beschluss zur Schließung des Archivs veröffentlicht. Der handschriftliche Nachlass von Georg Lukács (1885 - 1971) wird von der Handschriftenabteilung übernommen, die Bücher sollen in den allgemeinen Bibliotheksbestand des philosophischen Instituts übernommen werden. Die Arbeit des Archivs, das Werk eines der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts zu erschließen und zu erforschen, endet damit.

Die Entscheidung sei, sagt der langjährige Mitarbeiter des Archivs, Miklós Mesterházi, Teil der Machtübernahme von rechts im wissenschaftlichen Bereich. Eine ordentliche Begründung habe er nicht gehört, vieles sei noch undurchsichtig. Die Entscheidung steht auch in Zusammenhang mit der Neuorganisation der Geisteswissenschaften, die aus den repräsentativen Gebäuden der Akademie ausziehen werden. Diese will ihre internationale Bedeutung erhöhen. Das ist zumindest auf Englisch auf ihrer zweisprachigen Webseite zu lesen. Der Schließungsbeschluss findet sich dort nur auf Ungarisch.

Seit dem Herbst 1945 wohnte Georg Lukács bis zu seinem Tod 1971 in der 5. Etage des Hauses Belgrád rakpart 2, gleich an der Freiheitsbrücke. Er, einer der großen Autoren der Moderne, der deutschsprachigen wie der ungarischen, war bekannt geworden mit Essays über "Die Seele und die Formen" (1911) und der lebensphilosophischen "Theorie des Romans", kanonischen Schriften der Literaturwissenschaft. Hier prägte er den Begriff der "transzendentalen Obdachlosigkeit". Lukács, erklärt Mesterházi, schrieb selten in Bücher, es gebe nur wenige Marginalien von ihm, aber viele Zettel zu den von ihnen gelesenen Büchern. Nun wird sein Nachlass auseinandergerissen, werden Briefe, Manuskripte und Bücher getrennt.

Seit 1972 residierte das Archiv in der einstigen Wohnung, Editionen wurden erarbeitet, Schriften über Lukács gesammelt. Jetzt will die Akademie offenkundig mit seinem Namen nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Lukács war 1919, während der kurzen Monate der ungarischen Räterepublik, stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen in der Regierung von Béla Kun. Seine Wendung zum Marxismus und zur Kommunistischen Partei erstaunte viele, die seine frühen Schriften bewunderten. Er hat dafür einen hohen Preis bezahlt, war von seinen Genossen immer wieder zur "Selbstkritik" gezwungen und im Exil in der Sowjetunion 1941 vom NKWD inhaftiert worden.

"Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) wurde eine der Gründungsschriften des westlichen Marxismus; seine literaturgeschichtlichen Studien prägten die Kulturpolitik in der frühen DDR, bis er 1956 Kulturminister in der Regierung Imre Nagy wurde. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes wurde Georg Lukács verhaftet und an einen ihm unbekannten Ort verbracht, halb wie ein Staatsgast, halb wie ein Zuchthäusler behandelt. Kafka, sagte er damals, sei doch Realist. Dazu passt die Schließung des Archivs per Mitteilung der Kommunikationsabteilung. Eine Online-Petition dagegen unterschrieben bislang mehr als 7900 Menschen.

© SZ vom 21.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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