Geisteswissenschaften:Die Gesellschaft der Daten

Die Soziologen halten gerade einen großen Kongress in Bamberg ab. Aber sie drohen die Digitalisierung und neue Forschungsmethoden zu verschlafen. Ein kritischer Gastbeitrag aus der Kollegenschaft.

Von Andreas Diekmann

An diesem Montag beginnt in Bamberg der 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Das Thema lautet "Geschlossene Gesellschaft". Als eben solche präsentiert sich aber erstaunlicherweise auch das Fach selbst. Die Soziologie grenzt sich, in einer rapide wandelnden Welt der Wissenschaft, beharrlich und konservativ von anderen Disziplinen ab und pocht bequem auf die Autonomie des Fachs.

Früher gab die Soziologie, mit geschärftem Blick für Institutionen und soziale Normen, anderen Disziplinen kritische Anstöße, etwa den Wirtschaftswissenschaften. Heute gibt es kaum noch wechselseitige Berührungspunkte. Stattdessen sind Ökonomie und Psychologie eine fruchtbare Verbindung eingegangen, nämlich in der Verhaltensforschung über soziale Normen, Fairness, Vertrauen, Reputation, kollektive Güter und soziale Kooperation. Davon wird jedoch in der Soziologie, obwohl es sich um Grundfragen des Fachs handelt, kaum Notiz genommen. Experimentelle Wirtschaftsforschung, Sozialpsychologie, Anthropologie und biologische Verhaltensforschung haben in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Da wird über Grundfragen der Soziologie weit mehr, präziser und oft kenntnisreicher publiziert als in manchen soziologischen Fachblättern - etwa über das "Hobbes'sche Problem" der Entstehung, Stabilität und Erosion von gesellschaftlicher Ordnung.

Telefonumfragen? Beziehungen? Die Digitalisierung schüttelt auch die Sozialwissenschaften durch

Zwar findet man in der empirischen Sozialforschung - in Forschungen über Bildungschancen, Migration, Bevölkerung und Sozialstruktur - hervorragende Beiträge von Soziologinnen und Soziologen. Hat man bei solchen Themen früher viel unbefangener über kausale Zusammenhänge gesprochen, so ist es heute mit ausgefeilten statistischen Methoden und Längsschnittdaten möglich, den Ursachen und Wirkungen genauer auf die Spur zu kommen. Nur ist es eine Minderheit, die solche Methoden beherrscht und international beachtete Forschungsergebnisse publiziert.

"Let's Shake up the Social Sciences" - zum Durchschütteln der Sozialwissenschaften hat kürzlich der Soziologie, Mediziner und Netzwerkforscher Nicholas A. Christakis in einem Essay in der New York Times aufgerufen und die Stagnation der Sozialwissenschaften beklagt. Auch in der empirischen Forschung versagen altbewährte Methoden. So sind seit Langem die sogenannten Response-Quoten bei Umfragen rückläufig. Telefonumfragen sind aber keineswegs mehr repräsentativ, wenn nur noch zehn bis zwanzig Prozent der zufällig ausgewählten Personen an der Befragung teilnehmen und viele nur noch über das Handy erreichbar sind. Die tatsächliche Teilnahmequote wird deshalb oft wie ein Geheimnis gehütet - gerade auch von den Wahlforschungsinstituten. Onlinepanels sind bisher keine Alternative und kranken oft noch stärker an Verzerrungen als telefonische Umfragen. Natürlich gibt es auch hochwertige wissenschaftliche Umfragen. Sie sind aber so teuer, dass sie kaum noch finanzierbar sind.

Die neuen digitalen Technologien haben in nur wenigen Jahren die Welt verändert, und so auch die Welt der Sozialforschung. Sie schaffen aber auch ein ungeheures Potenzial neuer Möglichkeiten für die Entwicklung soziologischer Theorie. Ein paar Beispiele: Alex Pentland vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) verwendet eigens entwickelte Soziometer, um dynamisch im Zeitverlauf soziale Interaktionen aufzuzeichnen. Damit kann die wechselseitige Beeinflussung von Menschen studiert werden. Dirk Helbing, ein Kollege von mir an der ETH Zürich, und Mehdi Moussaid vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin untersuchen die Bewegung von Menschenmassen mit Hilfe von mathematischen Modellen und Computerexperimenten. Tom Snijders vom Soziologischen Institut in Groningen hat Werkzeuge und Software entwickelt, die weltweit zur Analyse großer, dynamischer Netzwerke eingesetzt werden.

Diese Forschungen sind das Gegenteil theorieblinder Big-Data-Analytik. Die Digitalisierung bringt gewaltige Datenmengen hervor. Für ihre Erhebung braucht man aber völlig neue Verfahren und Informatikwissen. Eine Traditionszeitung wie die erwähnte New York Times liegt heute in digitalisierter Form für einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten vor. Mit automatisierter Inhaltsanalyse und sogenannten "web crawlern" kann man neue Erkenntnisse über den kulturellen Wandel gewinnen. Mit solchen Methoden lassen sich auch Regeln und Grenzen für das Funktionieren elektronischer Märkte finden - Erkenntnisse, die die Wirtschaftssoziologie bereits stark bereichert haben.

Kürzlich hat ein Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (herausgegeben von Jürgen Friedrichs und Alexandra Nonnenmacher) wieder auf die Bedeutung von sozialem Kontext für die Soziologie aufmerksam gemacht. Gemeint ist: Der Mensch hängt stark von seinem Umfeld ab. Der Einfluss räumlicher und sozialer Bedingungen auf menschliches Handeln - auf Erwerbstätigkeit, Bildungschancen, Verkehr, Gesundheit und so weiter - kann heute mit ortsbezogenen Daten in einem "Geo-Informationssystem", kurz GIS, kartografiert und statistisch analysiert werden. Das sind Erkenntnisse, die auch politisch sehr relevant werden können. Kontrollierte Interventionsstudien und Labor- und Feldexperimente geben Auskunft über Bedingungen und Mechanismen sozialen Handelns. Eine Minderheit von jüngeren Soziologinnen und Soziologen arbeitet auch in Deutschland in diesem Bereich. Mit zwei Sonderheften der Zeitschrift Soziale Welt haben die Herausgeber Norman Braun, Marc Keuschnigg und Tobias Wolbring die Zunft daran erinnert, dass kontrollierte Experimente für die soziologische Theorie von großem Nutzen sein können.

Von alldem ist auf Soziologiekongressen leider nur vereinzelt die Rede. Im Soziologie-Studium erfährt man kaum etwas über die neuen statistischen Techniken der Kausalanalyse, über experimentelle Designs, über das Potenzial von Geo-Informationssystemen, die Bedeutung kontrollierter Interventionsstudien, die Erhebung internetbasierter Daten oder die neuen Entwicklungen in der Entscheidungs- und Spieltheorie. Wenn die Medizin sich ähnlich neuen Methoden verschlossen hätte, hätten wir heute noch den Aderlass.

Die Herausforderungen der Gegenwart sollte man nicht nur Informatikern überlassen

Sozialphysiker und Informatiker stoßen in die Lücke. Allerdings sind sie oft allzu unbekümmert gegenüber dem Vorrat an soziologischer Erkenntnis und Theorietradition. Da darf man sich dann nicht beklagen, dass die Soziologie weniger in wichtigen beratenden Gremien und Sachverständigenräten vertreten ist als andere Disziplinen, obwohl sie doch als Fach zu den vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen etwas zu sagen hätte. Wenn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) weiterhin jene Trends verschläft (nur wenige der Gremienmitglieder sind mit den neuen Methoden und Forschungen vertraut), dann werden sich jüngere, innovative Forscherinnen und Forscher von ihrer Standesvertretung abwenden. In jedem Fall aber wird eine Soziologie, die sich den Erkenntnissen anderer Disziplinen und methodischen Neuerungen verweigert, schnell ins Hintertreffen geraten.

Andreas Diekmann ist Professor für Soziologie an der ETH Zürich.

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