Die Rede vom "postfaktischen Zeitalter" und dem "Ende der Wahrheit" prägte viele aufgeregte Diagnosen des Jahres. Was hätte der nüchternste aller Zeitdiagnostiker, der 1997 gestorbene Soziologe Niklas Luhmann, wohl dazu gesagt? In seinem soeben erschienenen, bislang unveröffentlichten ersten Entwurf einer "Systemtheorie der Gesellschaft" schrieb er 1975 :
"Wahrheit liegt immer dann vor, wenn und soweit Kommunikationspartner sich einig sind, daß eine berichtete Selektion auf beiden Seiten als Erleben à conto Entscheidung zu buchen ist. Die bloße Faktizität der Ereignisse ist noch keine Wahrheit."