Gehört, Gelesen, Zitiert:Berlin, der Elefant

Vor 150 Jahren, am 23. Mai 1868, wurde in Paris Harry Graf Kessler geboren. Der Schriftsteller und Mäzen, in mehreren Ländern heimisch, führte von 1880 bis zu seinem Tod 1937 Tagebuch, voller treffender Beobachtungen - etwa über Berlin.

Vor 150 Jahren, am 23. Mai 1868, wurde in Paris Harry Graf Kessler geboren. Der Schriftsteller und Mäzen, in mehreren Ländern heimisch, als Kunstsammler so versiert wie als Diplomat, führte von 1880 bis zu seinem Tod im Exil 1937 Tagebuch. Es wurde ein großes literarisches Werk. Für den Herbst hat Klett-Cotta den noch fehlenden Band 1 der ersten vollständigen Ausgabe angekündigt, die Jahre 1880-1891. - Im Januar 1919, der Spartakusaufstand war niedergeschlagen, besuchte Kessler ein Kabarett in der Nähe des Potsdamer Platzes und verstand plötzlich das Rätsel Berlin.

"17. Januar 1919. Freitag. Berlin (...) Abends in einem Kabarett in der Bellevue Strasse. Rassige spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuss hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das grossstädtische Leben. Dieses Leben ist so elementar, dass selbst eine weltgeschichtliche Revolution wie die jetzige wesentliche Störungen darin nicht verursacht. Das Babylonische, unermesslich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, als sich zeigte, dass diese ungeheure Bewegung in dem noch viel ungeheuereren Hin und Her von Berlin nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elephant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob Nichts geschehen wäre."

© SZ vom 23.05.2018 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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