Gegenwartsliteratur:Der moderne Prometheus

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Michael Wildenhains Roman experimentiert mit Motiven der Fortpflanzung.

Von Jörg Magenau

Wo beginnt die Liebe? Und wo endet sie? Michael Wildenhain gibt in seinem jüngsten Roman "Das Singen der Sirenen" mehrere vertrackte Antworten auf die uralte Frage. Dass die Liebe etwas damit zu tun hat, Leben zu erzeugen, ist ihr offenes Geheimnis. Dass sie sich darin aber oft auch erschöpft, ist ihre Gefahr. So ist es auch dem Berliner Literaturwissenschaftler Jörg Krippen in dem Roman ergangen. Früher einmal war er ein Antifa-Kämpfer in Kreuzberg und Schöneweide, der sich in endlosen Schlachten mit Neonazis zerrieb, auf diesem Terrain seine spätere, sehr viel mutigere Frau kennenlernte, sich dann aber bald mit ihr in einer Kleinfamilie mit Kind in Hellersdorf wiederfand und in endlosen Alltagsstreitereien verlor.

Der Autor und ehemalige Hausbesetzer Michael Wildenhain. (Foto: Frank May/dpa)

Jetzt, am Beginn des Romans, kommt er, der vor Jahren ein hoffnungsvoller Jungdramatiker gewesen ist, als Gastdozent nach London, wo er die sehr viel jüngere, unwiderstehlich schöne, indischstämmige Naturwissenschaftlerin Mae kennenlernt. Sie befasst sich mit Abstammung und Reproduktionstechnologien. Sein Gebiet ist Mary Shelleys "Frankenstein" und also die Fantasie der Erschaffung eines künstlichen Menschen. Ihr Labor mit Petrischalen, Erlenmeyerkolben und Mikroskopen mitten in einem gothic-artigen Campus ist demnach der passende Ort für die erste erotische Annäherung. Zum sexuellen Vollzug kommt es dann aber erst auf dem nahegelegenen Friedhof. Damit sind die Pole gesetzt, zwischen denen das Leben und die Liebe sich bewegen.

Natur- und Geisteswissenschaften prallen im Londoner Exil aufeinander

Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften erzeugt zusätzliche Spannungen. Mae hält nicht viel von dem, was Jörg so treibt: Zitieren, nichts als zitieren, was andere zitiert haben und sich in nutzlosen Fiktionen verlieren! Sie dagegen habe mit "exakten Aussagen zu tun. Nicht irgendwelche Geschichten, die irgendwer erzählt." Leider hat der Literaturwissenschaftler ihr nur wenig entgegenzusetzen. Er zweifelt selbst an sich, anstatt ihr zu sagen, dass die Naturwissenschaften ohne eine Erzählung, die ihnen einen Rahmen gibt und ohne Philosophie, die sie begründet, noch nicht einmal über ihre eigene Bestimmung Auskunft geben könnten. Wildenhain vertraut darauf, dass der Roman, den er schreibt, ganz von alleine beweist, welche Schöpfungskraft in der Literatur steckt. Es muss ja nicht immer Frankenstein sein: Jeder gute Erzähler - und Wildenhain ist einer - schafft Figuren, die im besten Fall ihr Eigenleben gewinnen und die man nicht so schnell wieder vergisst.

Wildenhain benutzt eine mal explosive, mal expressionistisch zerklüftete, mal stakkatohafte Stenogrammsprache. Seine Sätze sind passagenweise bloß hingeschleuderte Wahrnehmungsbrocken, dann aber wieder bis zur Unleserlichkeit kunstvoll verschachtelte Gebilde, die alles an Bewusstseinsinhalten gleichzeitig aufnehmen wollen. Wildenhain ist ein präziser Beobachter, der äußere Bilder genauso exakt wie innere Gemütsbewegungen einzufangen weiß.

Michael Wildenhain: Das Singen der Sirenen. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 320 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro. (Foto: verlag)

Auch die Kapitel und die Zeiten schieben sich ineinander. In die Londoner Gegenwart ragt die Vergangenheit Jörg Krippens hinein: Die Schlachten, die er auf politischem und familiärem Gelände schlug, sind noch nicht vorbei. Vor allem sind es die Erinnerungen an den kleinen Sohn Leon auf dem Sprungbrett im Schöneberger Stadtbad oder an dessen Bemühungen auf dem Fußballplatz, die immer wieder blitzartig in das neue Leben jenseits der Berliner Familie eindringen.

Doch auch in London stößt Krippen auf die eigenen Vergangenheit: Mae ist die Schwester einer schwer gestörten, drogenvernichteten Frau, mit der er mehr als ein Jahrzehnt zuvor eine flüchtige Affäre hatte. Jetzt stellt sich heraus, dass der elfjährige Raji, ein genialer Schach und stoischer Rugbyspieler, sein Sohn ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt Jörg außerdem, dass Leon nicht sein leiblicher Sohn sein kann. So kommen sich zwischen dem Berliner Fußball- und dem Londoner Rugbyplatz seine biologische und die soziale Vaterschaft gehörig in die Quere. Er ist der moderne Mann in der Mitte seines Lebens, der zum Bleiben und zum Aufbrechen gleichermaßen zu schwach ist und nicht mehr weiß, wohin er gehört. So ist sein angestammter Platz der zwischen allen Stühlen, zwischen den Frauen, den Städten und den Söhnen.

Michael Wildenhain, der aus der Berliner Hausbesetzerszene kommt und einer der wenigen politisch ambitionierten Autoren seiner Generation ist, hat einen überraschend privaten, klug komponierten und spannenden Liebesroman geschrieben. Die Spannung bezieht er sowohl aus den Wendungen des Geschicks - meist sind es die Frauen, die entscheiden -, als auch aus der Frage, die ihn antreibt: Was Liebe und Abstammung miteinander zu tun haben und wie man seine eigene Position im Leben und Lieben findet. Diese Frage ist keineswegs unpolitisch. Sie ist jedenfalls weitreichender als die gelegentlich etwas klischeehaft geratenen Szenen, die ihren politischen Gehalt aus Baseballschlägern, Glatzen und Schlagringen zu gewinnen suchen. Diese Szenen liegen weit zurück in der Biografie des ratlosen Helden. Es könnte sein, dass Michael Wildenhain mit ihm zu neuen erzählerischen Ufern aufgebrochen ist, ohne aber das Politische hinter sich zu lassen.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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