Gefängnis-Architektur:Flaumfeder der Geschichte

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In Stammheim erlebte die Frühphase des deutschen RAF-Terrorismus ihren Höhepunkt und das Ende der "ersten Generation". Jetzt bekommt die Justizvollzugsanstalt Stuttgart einen Neubau.

Von Willi Winkler

In Württemberg halten sie an der Tradition fest, drum wurde Anfang der Sechzigerjahre unterhalb der Veste Hohenasperg, wo knapp 200 Jahre zuvor der Freiheitsdichter Christian Friedrich Daniel Schubart schmachten musste, ein nagelneues Gefängnis errichtet. Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart im 1942 eingemeindeten Stadtbezirk Stammheim sollte noch vor der großen Strafrechtsreform der modernste Knast aller Zeiten werden. Lokalstolzgeschwellt berichtete die Stuttgarter Zeitung 1966 von der "schönsten Strafanstalt Deutschlands".

Gisela Splett, Staatssekretärin im baden-württembergischen Finanzministerium, grub diese verblichene Ruhmrede aus, als am vergangenen Freitag im gleichen Stammheim fünf zweifellos noch schönere Häuser mit einer Schlüsselübergabe feierlich eröffnet wurden. In Württemberg gibt es einfach mehr Geschichtsbewusstsein, und darum rahmten sie die Feierstunde mit Barock und vergangener Gegenwart ein. Eine Bläsergruppe gab die Fanfare aus der "Suite de Symphonies" des französischen Komponisten Jean-Joseph Mouret, und weil das vielleicht doch zu ernst war, kam zum Abschluss aus Bombardon und Posaune "Hello Mary Lou". Hans-Georg Neumann kannte es womöglich aus der Hitparade, aber wahrscheinlich summte er es nicht, als er 1963 wegen Doppelmordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Die neuen "Unterkunftsgebäude", wie der behördliche Euphemismus das nennt, was vor 55 Jahren noch als Zuchthaus galt, werden dringend gebraucht. Die Schwerkriminalität sinkt zwar, aber die Zahl kleinerer Delikte und Vergehen steigt an. Vor allem aber wurde in den Jahrzehnten seither der humane Strafvollzug entdeckt, und der braucht mehr Platz.

In den Siebzigern wurde Stammheim zumindest von einer Flaumfeder der vorübereilenden Weltgeschichte gestreift. Neben dem Gefängnis entstand ein Mehrzweckgebäude, in dem der Prozess gegen die Gründer der sogenannten Roten Armee Fraktion (RAF) stattfand, gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Das Verfahren war das aufwendigste seit dem Frankfurter Auschwitzprozess. Der Gerichtsort mit beigeordnetem Gefängnis wurde damit zum Schwarzen Herz der Finsternis, in dem der deutsche Terrorismus seinen Höhepunkt und in einer spektakulären Selbstmordaktion sein Ende erlebte. Otto Schily, der Verteidiger Gudrun Ensslins, forderte vom Gericht, Richard M. Nixon, den ehemaligen Präsidenten der USA, vorzuladen. Nixon erschien natürlich nicht, schon weil das Gericht ihn nicht vorladen und schon gar nicht der Argumentation des Anwalts folgen mochte, dass nämlich die RAF aus gerechtfertigter Empörung über den amerikanischen Krieg gegen Vietnam ihrerseits in einen Krieg gezogen sei.

559 Haftplätze, Gefangene aus 55 Nationen - Baden-Württemberg ist ein Land der Rekorde

Auch die Richter, die Gefängnisbeamten, die Verteidiger wurden berühmt. Schily wurde später Innenminister, aber in Stammheim vertrat er das Recht der Angeklagten und sprach von einer "politisch-militärischen Auseinandersetzung zwischen Staatsapparat und RAF". Sogar Philosophiegeschichte fand hier statt: Ende 1974 erschien, begleitet von Daniel Cohn-Bendit und chauffiert von dem späteren Opec-Attentäter Hans Joachim Klein, der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in Stammheim. Der Husserl-Schüler hatte Heidegger gelesen, verstand aber nur wenig Deutsch und ließ sich von Andreas Baader bereitwillig über die Umstände der so genannten Isolationsfolter aufklären. Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe brachten sich hier vor 40 Jahren um.

Am vorvergangenen Sonntag hat der Regisseur Dominik Graf im "Tatort" die beliebte Verschwörungstheorie durchgespielt, ein Killerkommando hätte die Stammheimer Gefangenen nach der erfolglosen Landshut-Entführung umgebracht. Darauf erhob sich eine ebenso heftige wie dämliche Kritik von lauter Experten, die karrierebedingt das erste Proseminar Germanistik ausfallen lassen mussten. In den Politikerreden war der Stolz so groß, dass sogar dieser "Tatort" als weiterer Beweis für den weltweiten Ruhm Stammheims angeführt wurde.

Guido Wolf, der Minister der Justiz und für Europa, verwies ebenfalls nicht ohne Stolz auf die "Ereignisse", die sich "vor 40 Jahren überschlagen" hätten, allerdings habe sich Stammheim "weiterentwickelt". Als würde ein Solarbetrieb eröffnet oder eine Eisenbahntrasse, hagelte es große Zahlen: 559 neue Haftplätze sind entstanden, Gefangene aus 55 Nationen sind in Stammheim zwar nicht tätig, aber doch hier eingesperrt. Baden-Württemberg ist auch da ein Musterland, ein Land der Rekorde.

Der Einzige, der tatsächlich redete und nicht bloß Statistiken referierte, war Werner Wölfle. Natürlich schwoll auch ihm die Brust an diesem großen Tag, aber er bekannte, dass er mit einigen Hundert anderen im Herbst 1977 vor der Strafanstalt Stammheim gegen den Staat und gegen die vermeintlich inhumanen Haftbedingungen demonstriert hatte. Man habe ihm zur Vermummung geraten, denn sonst sei es aus mit der Karriere. Wie es damals zuging, ist auf Youtube oder in dem Kompilationsfilm "Deutschland im Herbst" zu sehen: die guten Stammheimer verlangten in bodennaher Mundart "hi macha", "aufhängga" und "auf der Flucht erschießa". In einem Staat, in dem man sich beim Demonstrieren vermummen muss, wollte er nicht leben, sagt Wölfle, und deshalb habe er sein Gesicht sehen lassen. Es hat ihm nicht geschadet. Der Sozialpädagoge ist einer der Stuttgarter Bürgermeister, hat aber nicht alles vergessen und hofft, dass die Verurteilten ihre Haft in Stammheim "in Würde erfahren".

Geschichte, wohin das Auge reicht, aber die neuen Zellen sind sehr schön

Vom fünften, sechsten, vielleicht auch vom siebten Stock, in dem die RAF-Gefangenen gehalten wurden, regnet es Beschwerden und leichte Schmähungen herab, als die Festgesellschaft zur Besichtigung der Neubauten schreitet. Die Gäste möchten doch mal zu ihnen rauf kommen, schallt es von der Höhe. Der Boden sei verschimmelt, "da laufen schon die Käfer drüber!"

Die feierliche Einweihung der nur mehr vierstöckigen Neubauten ist noch längst nicht das Ende: dem Altbau, das Ur-Stammheim, musste eine Laufzeitverlängerung zugestanden werden, aber irgendwann wird er abgerissen werden. Ein Krankenhaus muss her, eine Betreuungseinrichtung für psychisch auffällige Straftäter. Es gibt noch viel zu bauen, zu vollziehen und zu resozialisieren. Strafhaft ist eine kleine Industrie geworden, Stammheim ein nicht ganz unbedeutender Arbeitgeber. Draußen transportiert ein riesenhafter Bus mit sicherlich geringstmöglichem Feinstaubausstoß hinter getönten Scheiben Gefangene zu einem anderen Vollzugsort.

Vielleicht geht es nach Bruchsal, wo über Jahrzehnte der RAF-Mörder Christian Klar eingesperrt war und wo Hans-Georg Neumann nach 28 Jahren in Berlin seit inzwischen 26 Jahren sitzt. Damit ist er praktisch so lang eingesperrt wie es Stammheim I gibt. Neumann ist 81 Jahre alt, eine Entlassung nicht vorgesehen, weil der Gefangene keine soziale Bindung vorweisen kann. Geschichte, wohin das Auge reicht, aber die neuen Zellen sind sehr schön.

Zwischen die betreuten Graffiti an der Außenmauer des "Jugendtreff Sieben Morgen" hat jemand die erste Zeile der fast vergessenen alten deutschen Nationalhymne gepinselt: "Die Gedanken sind frei."

© SZ vom 23.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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