Geburtstag:Seidenweber des Erzählens

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Der Schriftsteller und Dramatiker Dieter Forte wird achtzig.

Von Lothar Müller

Der Leihbuchhändler Simon ist ein bemerkenswerter Mann. Er unterlegt seine Sätze mit theatralischen Gesten, wenn er wieder einmal seinem Ruf gerecht werden will, alle wichtigen Bücher im Kopf zu haben. Vier Wochen braucht er dazu, Tolstois "Krieg und Frieden" zu erzählen, zwei Wochen für Melvilles "Moby Dick", für Joseph Conrads "Lord Jim" nur eine Nacht. Manchmal flicht er beim Erzählen den Satz ein: "So etwas Ähnliches habe ich auch mal erlebt."

Eines Tages ist der Leihbuchhändler verschwunden, wie so viele Menschen in der Stadt, darunter die "Zivilisten mit einem gelben Stern", die von SA-Leuten auf Lastwagen gejagt werden. Zu seinen Zuhörern gehörte der namenlose Junge, den Dieter Forte ins Zentrum seiner Romantrilogie "Das Haus auf meinen Schultern" (1992-1998) gestellt hat. Manchmal erfindet er zu den Romanen, die der Leihbuchhändler Simon erzählt, Zwischenkapitel, lässt Geschichten, die in Russland oder Amerika beginnen, in irgendeiner Ferne enden. Er folgt damit dem ungeschriebenen Gesetz, dem der Prosaautor Dieter Forte sein Werk unterstellt hat: Das Erzählen muss immer weitergehen, es muss die Muster, die allen Geschichten eingewoben sind, immer neu im Leben und Sterben der Menschen sichtbar machen. Denn nur wenn das Erzählen aufhört, hat der Tod gesiegt.

Dieter Forte wurde 1935 in Düsseldorf geboren, hat dort die Bombennächte und die Nachkriegszeit erlebt. Er hat diesen Lebensstoff, den Luftkrieg, der dem Jungen in die Lungen fuhr und ihn zum kranken Kind machte, das für den Aufbau-Elan der Nachkriegszeit auf immer verloren war, erst in ein großes Erzählwerk verwandelt, als er dafür die ihm gemäße Form gefunden hatte. Diese Form war nicht das Theater, obwohl er 1970 mit dem Stück "Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung", in dem am Ende Jakob Fugger das Kapital anbetet, ein spektakuläres Bühnendebüt hatte. Und sie ist auch nicht das Hörspiel oder das Fernsehspiel, obwohl er doch zahlreiche Drehbücher verfasst hat. Diese Formen waren an kollektive Arbeitsformen gebunden.

In der Prosa, im einsamen Schreiben, fand Forte das Medium, um den Stoff zu bergen, den er bergen wollte: die Erinnerung an den Krieg und die Jahre, die ihm folgten. Die Prosa war das Medium, in dem sich der Lebensstoff in Geschichten verwandeln ließ, zu denen Zuhörer sagen können: "So etwas Ähnliches habe ich auch mal erlebt." Um das Kriegskind, das er war, in die tief gestaffelte Erzählwelt des Leihbuchhändlers zu retten, hat Forte in seinen Romanen "Das Muster" (1992), "Der Junge mit den blutigen Schuhen" (1995), "In der Erinnerung" (1998) und "Auf der anderen Seite der Welt" (2004), der den jungen Mann, der aus dem kranken Kind herausgewachsen ist, in ein Sanatorium am Meer versetzt, die Autobiografie ausgeschlagen und das erlebte Leben in die Distanz der dritten Person gerückt.

Forte war schon ein Mann von mehr als fünfzig Jahren, und lange schon lebte er in Basel, als er damit begann, Fäden der eigenen Familiengeschichte zum Grundmuster seiner Romantrilogie zu verknüpfen. Er ließ in einer über Jahrhunderte ausholenden, spiralförmigen Erzählbewegung die hugenottische Seidenweberfamilie Fontana, deren Wurzeln bis ins Lucca der Renaissance reichen, und die aus Polen stammende Bergarbeiterfamilie Lukacz in Rheinland und Ruhrgebiet zusammenfinden, auf Wegen, die meist Fluchtwege waren. Beide Familien waren Einwanderer in ein Deutschland, das ihnen nicht selten skeptisch begegnete, die aus dem Osten kommende zur Tragödie neigend, die südliche, im rheinischen Katholizismus landende, mit der Komödie im Bunde.

Über Basel, durch das er auch seine Familie Fontana ziehen lässt, hat Forte einmal gesagt, es sei in seinem Erleben die erste große Stadt rheinaufwärts gewesen, die nicht zerstört war. Sein jüngstes Buch "Das Labyrinth der Welt" (2013) ist im Kern ein Basel-Buch. Der berühmte Totentanz, den Basel beherbergt, ist, wie die "Göttliche Komödie" Dantes, eines der Muster, das Forte in sein großes Romanwerk verwoben hat. Wer als Nachgeborener wissen will, wovon die Rede ist, wenn derzeit des Kriegsendes vor siebzig Jahren gedacht wird, sollte dieses Werk lesen. Am Sonntag feiert Dieter Forte seinen 80. Geburtstag.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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