Geburtstag:Lesbarer Wiedergänger

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Auch bekannt für seine druckreifen Stegreifreden: Norbert Miller. (Foto: TU Berlin)

Mit dem Wissen des 18. Jahrhunderts die Literatur der Gegenwart erklären: Der Literaturwissenschaftler Norbert Miller wird am Sonntag 80.

Von Lothar Müller

In den Schriften des Literaturwissenschaftlers Norbert Miller ist es nicht weit von Süditalien nach England, zu den Landsitzen der englischen Aristokraten an der Themse. Ein Absatz nur, und schon sieht sich der Leser von Otranto am Stiefelschaft in die Nähe von Twickenham versetzt. Und nach dem Gesetze der wiederholten Spiegelungen, von dem sich sein Cicerone leiten lässt, wird der Leser mehrfach auf diesen schnellen Flug mitgenommen.

In Millers "Archäologie des Traums" (1978), seinem Versuch über Giovanni Battista Piranesi, führt er über Rom hinweg, genauer gesagt, über dessen Nachtseiten, in denen die edle Einfalt, die Winckelmann den Griechen zuschrieb, wenig gilt. In "Strawberry Hill" (1986), Millers Studie über Horace Walpole und die "Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit", geht es von England aus zurück nach Otranto, das Walpole, ohne je dort gewesen zu sein, zum Schauplatz seines Schauerromans "The Castle of Otranto" machte. Sein Landsitz "Strawberry Hill", den Walpole im Stil des "gothic revival" erbauen ließ, war nicht nur vom Schloss am Stiefelschacht inspiriert, sondern auch von Piranesi.

Es wäre reizvoll, den Spiegeleffekten im Werk Millers nachzuspüren, wenn er etwa durch die italienischen Landschaften in den Romanen Jean Pauls führt, der nie in Italien war, oder mit ihm von Horace Walpoles "Strawberry Hill" nach "Fonthill Abbey" (2012) aufzubrechen, in die dunkle Welt des William Beckford und seines Schauerromans "Vathek", in der wiederum Piranesi spukt. Aber dieser Philologe der Nachtseiten der Einbildungskraft verliert sich nie in den dunklen Labyrinthen, und schon gar nicht verliert er sich in der Vergangenheit. Sein Piranesi-Buch endet mit einem Kommentar zum "Carceri"-Gedicht des jungen Hans Magnus Enzensberger, und das letzte Wort überlässt er einem Essay des schwedischen Schriftstellers Lars Gustafsson. Norbert Miller repräsentiert den in seiner Generation nicht selbstverständlichen Impuls der Annäherung der Philologie an die Gegenwartsliteratur.

Geborener Münchner, war er in den frühen Sechzigerjahren Mitarbeiter von Walter Höllerer an der Frankfurter Universität, und wurde dann wie Höllerer Professor an der TU Berlin. Nicht zuletzt diese beiden machten die TU Berlin zum Hauptschauplatz einer großen Offensive der Philologie in Richtung Gegenwartsliteratur, als Herausgeber der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter", als Gründer des Literarischen Colloquiums am Wannsee, als Organisatoren legendärer Lesungen internationaler Autoren in voll besetzten Auditorien.

Norbert Miller ist ein deutscher Repräsentanten des angelsächsischen "criticism", der Einheit von enzyklopädischer Gelehrsamkeit und aktueller Literaturkritik. Er war Gast im "Literarischen Quartett" (dem alten), Juror in Klagenfurt, und 2015 hielt er bei der Verleihung des Friedenspeises an Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirche die Laudatio.

Eine der Voraussetzungen hierfür ist das Talent der lebendigen Rede, das sich womöglich den Geselligkeitstraditionen seiner bajuwarischen Herkunftswelt verdankt. Zum Glück hat er sich in der Ausbildung dieses Talents von der Neigung mancher Theoretiker, Rede und Schrift gegeneinander auszuspielen, nicht ins Bockshorn jagen lassen. Wer in improvisierter Stegreifrede, etwa bei einer Ausstellungsführung, druckreif formulieren kann, bei dem ist die Schrift in der Rede anwesend.

Man nennt Figuren wie Norbert Miller gern Grenzgänger, Brückenbauer, Virtuosen der Interdisziplinarität. Aber eigentlich sind sie Wiedergänger. Norbert Miller jedenfalls ist ein Wiedergänger der Wissenskulturen des 18. Jahrhundert, er macht als Komparatist die Trennungen des 19. Jahrhunderts rückgängig, in dem die Philologie zur nationalen Disziplin verkümmerte. Und zur Textwissenschaft, deren Augen auf Druckschriften und Manuskripte blicken und selten auf Gemälde, Statuen, Landschaften, Treppen, Kuppeln - und in Keller.

Millers mustergültige Kommentierung der "Italienischen Reise" Goethes steht im Zentrum seiner Erschließung der europäischen Kunstliteratur. Und er hat ein Ohr für die Musik, nicht nur indem mit Carl Dahlhaus erarbeiteten Großwerk "Europäische Romantik in der Musik". So sehr für Miller gilt, dass alle seine Ausflüge rückgebunden bleiben an das Fundament der Editionsphilologie, so sehr gilt zugleich, dass seine Philologie keine Kunst mit sich alleine lässt, schon gar nicht die Literatur. Eben darum ist er ein lesbarer, lesenswerter Philologe. Am kommenden Sonntag wird er 80 Jahre alt.

© SZ vom 12.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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