Geburtstag:Deutsche Zustände

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Friedrich Dieckmann, geboren im Mai 1937, hält in seinen Essays den Deutschen den historischen Spiegel vor. (Foto: picture alliance/dpa)

Er lebt nun schon im dritten deutschen Staat und setzt unermüdet das Geschäft der Nationalerkundung fort. Gebildet, erfüllt von Groll gegen den Kapitalismus: Der Essayist Friedrich Dieckmann wird achtzig.

Von Lothar Müller

Mehrfach taucht in den Schriften des Essayisten Friedrich Dieckmann der 30. Mai 1968 auf, der Tag, an dem auf Weisung der Staatsführung in Leipzig die spätgotische, von Luther selbst im August 1543 zum evangelischen Gotteshaus geweihte Universitätskirche gesprengt wurde. Stets erscheint dieser "Terrorakt" als symbolische Aktion im Jahr des Prager Frühlings, dessen Ausstrahlung die SED-Führung fürchtete, als "brutale Abschreckung aller bürgerlichen Kräfte in der DDR, auch jener, die im blockpolitischen Zusammengehen mit der SED ein Mittel gesellschaftlichen Überdauerns gesehen hatten".

Wie so oft bei diesem Autor steckt auch hier im historischen Kommentar ein autobiografischer Kern. Die "bürgerlichen Kräfte" waren kein Phantom, es gab sie in der DDR. Zu ihnen gehörte der von der Nordseeküste stammende Pfarrerssohn Johannes Dieckmann, in der Weimarer Republik Mitarbeiter Gustav Stresemanns, in der NS-Zeit zwei Mitverschwörern des 20. Juli eng verbunden und nach 1949 stellvertretender Vorsitzender der Blockpartei LDPD und Präsident der Volkskammer der DDR. Sein Sohn Friedrich Dieckmann, 1937 in Landsberg an der Warthe geboren, wuchs im zerstörten Dresden auf, ging in Birkenwerder bei Berlin in die Oberschule, studierte in Leipzig und war von 1972 bis 1976 Dramaturg am Berliner Ensemble, als ein Richard Wagner-Enthusiast in der Bertolt-Brecht-Welt. Seine Festspielberichte aus Bayreuth erschienen in der Zeitschrift "Sinn und Form", auch in Tageszeitungen, und er hatte feine Ohren für das Echo der Bibelübersetzung Luthers, der Psalmen und der Choräle in der Lyrik und den Dramen Brechts, einschließlich der "Dreigroschenoper".

Die Energien des unermüdlichen Essayisten Friedrich Dieckmann sind aus den Traditionen des bürgerlichen Kulturprotestantismus hervorgewachsen, die Reformation ist in seinen Schriften allgegenwärtig, und zugleich hat er immer wieder die klassisch-romantische Literatur und Musik der Deutschen zur politischen Geschichte der Deutschen in Beziehung gesetzt. Zu Zeiten der DDR war das mit subtilen Einsprüchen gegen die Indienstnahme der Klassiker durch die staatliche Kulturpolitik verbunden, nach 1989/90 mit hartnäckigen Einsprüchen gegen die Selbstglorifizierung des bundesrepublikanischen Internationalismus und Kosmopolitismus und den entfesselten Kapitalismus. Seine Essays blieben, was sie sich früh als Ziel gesetzt hatten: "Nationalerkundung".

In seinem Buch über das Luther-Bild bei deutschen Autoren hat Dieckmann viele Fäden seines Werkes verknüpft ( Luther im Spiegel. Von Lessings bis Thomas Mann. Quintus Verlag, Berlin 2016. 266 S., 22 Euro). Im Dreieck aus Heine, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche ist Luther die Chiffre für die Frage, was deutsch sei. Nie geht Luther bei Dieckmann im Separatistisch-Antirömischen, auch Anti-Europäischen auf. Goethes Skepsis gegenüber Luther steht sein liberales Management der Dreihundertjahr-Feier der Reformation 1817 gegenüber. Und wer die Essays über Luther bei Marx und Engels oder Thomas Mann liest, stößt in der Wirkungsgeschichte der Polemiken Luthers gegen den Wucher zugleich auf den Groll Dieckmanns gegen den aktuellen Kapitalismus und seine Finanzkrisen. Denn es gibt bei diesem Autor keine antiquarische Geschichtsschreibung. An diesem Donnerstag wird er achtzig Jahre alt.

© SZ vom 24.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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