Französische Literatur:Wie man Worte ins Feld führt

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Vor 200 Jahren starb Madame de Staël. Sie gilt als schwärmerische Erfinderin der Legende von den Deutschen als Volk der Dichter und Denker. Sie hat aber zugleich die Zeitgeschichtsschreibung miterfunden.

Von Lothar Müller

Man könnte mit Recht behaupten, dass die Franzosen und die Deutschen an den beiden äußersten Ende der moralischen Kette stehen, da jene die äußeren Gegenstände als den Hebel aller Ideen annehmen, und diese die Ideen für den Hebel aller Eindrücke halten." Mit Sätzen wie diesem aus ihrem Buch "De l'Allemagne" (1810) ist Madame de Staël berühmt geworden. Und berüchtigt.

Als das Buch, dessen Originalausgabe Napoleon vor der Auslieferung hatte konfiszieren und einstampfen lassen, im Frühjahr 1814 in einzelnen Lieferungen auf Deutsch erschien, erreichte der patriotische Aufschwung der Befreiungskriege gerade einen seiner Höhepunkte. Im April 1814 wurde Napoleon nach Elba verbannt, und die Deutschen sahen sich eher ungern als Volk allein des Gedankenreichtums und der Ideen porträtiert, wo sie doch gerade militärisch an den Franzosen Revanche genommen hatten.

Dass sie sich unsterblich in die deutsche Seele verliebt habe, ist ein Klischee

Dass Madame de Staël eine prominente Gegnerin Napoleons und im Mai 1814 nach zwölfjährigem Exil in ihre Geburtsstadt Paris zurückgekehrt war, minderte das Unbehagen nicht. Und wann immer später nach dem Ursprung des Klischees gesucht wurde, die Deutschen seien das Volk der Dichter und Denker, wurde man in "De l'Allemagne" fündig. Dass aber Madame de Staël eine romantische Schwärmerin gewesen sei, die sich auf ihren Reisen nach Deutschland vom November 1803 bis Mai 1804 und von Dezember 1807 bis Juni 1808 in die deutsche Seele und den deutschen Hang zur Träumerei verliebt habe, ist selber ein Klischee.

Denn Madame de Staël war, nicht anders als Napoleon und seine deutschen militärischen Widersacher, eine Strategin. Ihre Kriegskunst war die Rhetorik, und wenn sie ihr Bild der Deutschen im Kontrast zu den Franzosen entwarf, war das ein taktisches Manöver und mit ihrer antinapoleonischen politischen Grundhaltung verknüpft. Ihre Rhetorik entstammte sowohl dem Salon wie der Bibliothek, sie war nicht auf die Antike geeicht, sondern auf die Aktualität und den "esprit", also auf Geistesgegenwart. Damit war sie Teil einer gesamteuropäischen Bewegung, die erst im Rückblick als solche markant hervortritt: der Entdeckung der Zeitgeschichte, der Geschichtsschreibung des Jüngstvergangenen, der noch nicht erkalteten Historie.

Die Reisen der Madame de Staël durch Deutschland waren Reisen einer Exilantin, die der konstitutionellen Monarchie anhing und ihren Salon in die Schweiz, in das kleine Schloss Coppet verlegt hatte. Was sie in Frankfurt am Main erlebte, in Weimar und in Berlin, wie sie für die Franzosen die Schriften von Klopstock und Wieland, Lessing und Winckelmann, Schiller und Goethe im kolloquialen Ton der Salondame vorstellte, wie Goethe schon in den 1790er-Jahren ihren "Versuch über die Dichtungen" übersetzte, wie sie August Wilhelm Schlegel 1804 in Berlin kennenlernt und als Hauslehrer für ihre Kinder engagiert und mit nach Coppet nimmt, all das ist oft geschildert worden.

Und legendär sind ihre Liebschaften, etwa die mit Benjamin Constant, aber auch in dem selbstbewussten erotischen Eroberergestus, mit dem sie etwa die Gesellschaft in Wien provozierte, steckte nicht nur der zeittypische Kult der Leidenschaften. Er war begleitet von prosaischen Plädoyers für ein liberales Scheidungsrecht. Ihre emphatischen Beschwörungen der Macht des Wortes und der Poesie hatten ihr Pendant in der Schrift "De la Littérature, considérée dans ses rapports avec les institutions sociales" (1800), einem Vorgriff auf das, was später einmal "Literatursoziologie" heißen würde. Diese Betrachtung der Literatur und ihrer Infrastruktur als soziales Phänomen war eine Frucht der Geistesgegenwart, nicht anders als die Entdeckung der Zeitgeschichte.

Es ist unverkennbar, dass in dem Werk, an dem sie in ihren letzten Lebensjahren arbeitete und das erst postum erschien, den "Considérations sur la Revolution Francaise" (dt. "Betrachtungen der vornehmsten Begebenheiten der Französischen Revolution", 1818) das "sine ira et studio" des unbeteiligten Historikers schlechte Karten hat. Eine der wichtigsten Kraftquellen dieser Schrift war vielmehr der autobiografische Impuls. Bis zum ihrem Tod war Madame de Staël, obwohl sie den Namen des schwedischen Botschafters Eric Magnus de Staël-Holstein trug, den sie im Alter von siebzehn Jahren geheiratet hatte, die Tochter des in Genf geborenen Bankiers Jacques Necker, der im Oktober 1776 zum Finanzminister unter Ludwig XVI. aufgestiegen war.

Für Psychologen ist interessant, wie der Bankier Jacques Necker, seine Gattin Suzanne, die in Paris einen bedeutenden Salon führte, und ihre 1766 geborene Tochter inmitten der Institutionen des Ancien régime ein Familienmodell lebten, das in seinen Spannungen und hochaffektiven Bindungen eher den bürgerlichen Familienlabyrinthen ähnelte als dem mondänen Leben der Eliten. In Madame de Staels Verhältnis zu ihren Kindern mochte die mondäne Distanz eine gewisse Rolle spielen, der Vater blieb eine affektiv hoch besetzte Großfigur und ging als solche in ihr Werk ein, auch und gerade in ihr spätes Buch über die Französische Revolution.

Denn darin ist der Finanzminister Necker die Portalfigur des ersten Bandes. Er ist gerade nicht in Paris, sondern auf Reisen in Deutschland, als am 14. Juli der Sturm auf die Bastille die Revolution einleitet. Den "Geist von 1789" hat Madame de Staël gegen die Hinrichtung des Königs wie gegen Napoleon in Stellung gebracht. "Ungeachtet blutdürstiger, vom Volk begangener Unthaten war der 14. Julius ein großer Tag." Den Tag, an dem Necker nach Paris zurückkehrt, schildert sie als "letzten glücklichen Tag meines Lebens", seinen öffentlichen Auftritt als Triumph.

Im Februar 1817 erlitt Madame de Staël eine Gehirnschlag, führte aber im Rollstuhl ihren Pariser Salon, soweit es ging, fort. Sie starb, als hätte sie auch dabei noch heimlich Regie geführt, am 14. Juli, dem Tag des Sturms auf die Bastille.

© SZ vom 14.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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