Französische Literatur:Wettschwimmen durch die Zeitgeschichte

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Karin Tuil füllt in "Die Zeit der Ruhelosen" eine Form mit großer Vergangenheit mit den Stoffen der Gegenwart. Es erweist sich aber als schwierig, alle Handlungsstränge zu Kapitalismus, Medienaffären und Internet zu verknüpfen.

Von Joseph Hanimann

Allfällige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig, so lautete einst die Schutzformel bei großer Realitätsnähe eines Romans oder Films. Heute sagt man das anders. "Dieses Buch ist ein fiktionaler Text", wird klargestellt. Der Bezug auf Ereignisse aus der Wirklichkeit erhebe keinen Anspruch auf Wirklichkeitstreue. Er lässt solche Ereignisse aber stürmisch hereinflattern. Motto-Zitate, eine Eingangsszene mit einstürzenden Twin-Towers, die Schilderung der Bush-Rede über Amerika im Krieg stecken den Rahmen ab. Auf den fünfhundert folgenden Seiten wogen dann Afghanistan- und Irakkrieg, Globalkapitalismus, Medienaffären, Realzeitkommunikation über Netzwerke, ideologische Kämpfe, historische Altlasten, gemeiner Rassismus in den Vorstädten wie in den höheren Gesellschaftssphären durcheinander. Ein wilder Ozean aus Gegenwart tut sich auf, in dem ein halbes Dutzend Romanfiguren um ihr Leben schwimmen.

Die französische Autorin Karine Tuil, 1972 in Paris geboren, wurde durch ihre Versuche bekannt, den aktualitätsgesättigten Gesellschaftsroman wiederzubeleben. Ihr letzter Roman "Die Gierigen" wird gerade verfilmt. Statt jedoch, wie die Erfinder dieses Genres, Balzac und Zola, Panoramen aus Gruppenkonstellationen und Einzelschicksalen zu entwerfen, gräbt sie sich in die Lebenswelt ihrer Figuren ein, beißt sich an ihnen fest, lässt die individuelle Empörung über die bestehende Weltlage hochschäumen. Das Verfahren führt zu interessanten Durchblicken auf unsere Gegenwart, die durch literarische Stilisierungen noch verstärkt werden. Eine Dauernervosität, die dadurch entsteht, dass die Möglichkeit des offenen Protestes jederzeit gegenwärtig zu sein scheint, lässt aber gleichzeitig den Eindruck von Zähflüssigkeit aufkommen. Was in diesem Roman in scharfer Skizzierung sich abzeichnen müsste, wird in die Breite gewalzt.

Es gibt einen umgekehrten Rassismus: Er hält Einwanderer für bessere Menschen

Drei Ereignisstränge laufen im Buch allmählich zusammen. Der französische Armeeleutnant Romain Roller kehrt aus der Hölle des Afghanistankriegs zurück und hält sich die traumatische Erinnerung durch eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit der Journalistin Marion Decker vom Leib. Diese junge Frau ist die neue Gattin des französisch-amerikanischen Starunternehmers François Vély, der vor einer wichtigen Fusion steht, dabei aber in einen Skandal gerät. Ein Jugendfreund Rollers wiederum, Osman Diboula, afrikanischer Herkunft, der sich während den Pariser Vorstadtunruhen 2005 als gewandter Schlichter hervorgetan und es dann bis zum Präsidentenberater in den Élysée geschafft hatte, verliert seines ungestümen Temperaments wegen den Posten, arbeitet sich an dem seiner Ansicht nach rassistisch bedingten Sturz ab, schaltet sich in die Kontroverse um den Unternehmer Vély ein und findet schließlich aufs Neue den Weg nach oben.

Kapitel um Kapitel schieben sich diese drei Geschichten nebeneinander voran. Vélys Vater, ein Résistance-Veteran und ehemaliger Minister, hatte den Familiennamen Lévy abgelegt. Sein Sohn setzt den Prozess der gesellschaftlichen Anpassung fort. Er ist flapsig, brillant, zynisch, egoistisch, erfolgreich im Beruf wie bei den Frauen - bis seine frühere Frau nach der Scheidung aus dem Fenster springt, die Kinder auf Abwege geraten und er selbst durch eine dumme Affäre in den Ruf eines Rassisten kommt. Wie ein Bumerang schlägt ihm daraufhin in den Medien seine Herkunft entgegen: in Form von Invektiven wie "Kapitalisten-Jude", "jüdischer Sklavenhalter".

Solche Ansichten teilt der nach der Entlassung zu seinen Kumpeln in der Vorstadt zurückgekehrte Osman nicht. Er vertieft sich in die Geschichte des Kolonialismus, liest Frantz Fanon und erkennt in der Geschmacklosigkeit Vélys, der für ein Interview auf der Skulptur einer halb nackten afrikanischen Frau mit gespreizten Beinen posiert, die Quintessenz von Rassenüberheblichkeit. Zumindest am Anfang. Dann denkt er um und nimmt den Kapitalisten in Schutz. Romain und Marion schweben und stolpern derweil durch ihr kompliziertes Liebesglück.

Spannend ist der Roman dort, wo er den Obsessionen, Selbsttäuschungen, Schwächen, Entgleisungen der Figuren nachspürt, etwa durch in direkter Rede protokollierte Gespräche über die Nachwirkungen des Kolonialismus. "Die Wunden der Demütigung sind die schlimmsten, doch man stirbt nicht daran", sagt Osmans Vater zu seinem Sohn. Und dessen franko-senegalesische Kollegin im Élysée warnt ihn: "Wenn du die Welt immer nur nach dem Schema des Kolonialismus wahrnimmst, ist das dein Problem, nicht meins." In den Streitgesprächen mit seinen Freunden bleibt Osman lange unschlüssig, wo die begründete Empörung über Rassenvorurteile in einen umgekehrten Rassenhass gegen die Weißen umschlägt.

Leider wirkt die Aufarbeitung dieses reichhaltigen Materials im Buch konstruiert. Die Figurenprofile sind glatt, oft nah am Stereotyp und bergen kaum Überraschungen. Die unterschiedlichen Empfindungswelten der drei Geschichten sucht die Autorin zwar durch unterschiedliche Erzählstile gegeneinander zu akzentuieren. Dennoch wälzt sich das Geschehen im ständigen Kapitelwechsel schleppend voran. Für einen Gesellschaftsroman ist die Figurenbasis zu schmal, für eine Profilstudie ist das Buch zu füllig.

Die Übersetzerin folgt der Autorin mit Aufmerksamkeit und Geschick durch den interessanten Stoff. Warum der deutsche Titel "Die Zeit der Ruhelosen" aber so ziemlich das Gegenteil des Originaltitels "L'insouciance" - das heißt: "Unbeschwertheit" oder "Leichtsinn" - verkündet, bleibt ein Rätsel, das der Verlag stiftete.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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