Französische Literatur:In einer Blase aus Panzerstahl

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Im zweiten Band von Virginie Despentes' "Vernon Subutex" ist der Titelheld lange Zeit verschwunden. Aber die Whatsapp-Gemeinde seiner Freunde stöbert ihn auf, und dabei wird Frankreich zum grellen Inferno.

Von Joseph Hanimann

Hattest du nicht mal einen Plattenladen? Der Angesprochene würde am liebsten mit Nein antworten. Seit er als Clochard im Pariser Park Buttes Chaumont lebt, möchte er einfach nur in Ruhe gelassen werden. Die Vergangenheit lässt einen aber nicht so ohne Weiteres los. Leicht geht man ihr auf den Leim wie die Fliege auf das Klebband, das von der Decke der Erinnerung hängt. Die Vorgeschichte aus dem ersten Band des Romanzyklus von Virginie Despentes über den ehemaligen Plattenhändler Vernon Subutex hatte schon so viele Akteure, dass diesem Folgeband ein erklärendes Personenverzeichnis vorangestellt werden musste, wie bei den Feuilleton-Romanen aus dem 19. Jahrhundert.

Wir kennen sie fast alle schon, von der in die Jahre gekommenen Rockerin Emilie mit ihren Yogaübungen und Internetflirts bis zu dem seinen Groll über die eigene Mittelmäßigkeit auf die ganze Welt abschiebenden Drehbuchautor Xavier, dem schlaff gewordenen Alt-Achtundsechziger Patrice mit seinem Gelaber von Revolution und all den sonstigen Akrobaten im ächzenden Laufrad ihres Individualismus. Sie waren für Vernon Subutex nach der Schließung seines Plattenladens die Anlaufstellen, bis er obdachlos auf einer Parkbank landete.

Waren durch jenen Weg durch die Wohnungen der Freundinnen und Freunde im ersten Band aber die Etappen des Gesellschaftspanoramas klar vorgegeben, so muss in diesem zweiten Band das Erzählen weitgehend ohne die Vermittlung des Titelhelden auskommen. Der sympathische Plattenhändler ist zunächst verschwunden. Er fiel auf seiner Bank mit Blick auf Sacré-Coeur in eine fiebrig fade Leere des Vegetierens und bleibt für die ehemaligen Kumpels unauffindbar. Getrieben vom schlechten Gewissen, ihm nicht länger Unterkunft gewährt zu haben, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen und schließen sich auf der Suche nach dem Verschollenen zu einer Whatsapp-Gemeinde zusammen.

Denn neben dem schlechten Gewissen gibt es noch ein weiteres Motiv. Es steckt in den Videokassetten mit dem Selbstinterview, das der verstorbene Rocksänger Alex Bleach in einer einsamen Drogennacht aufgezeichnet und seinem Freund Vernon anvertraut hatte - "das ist mein Testament, Junge, checkst du das?" Diese Kassetten, die seit Vernons Verschwinden in Emilies Wohnung unter dem Bett liegen, sind für mehrere aus dem Bekanntenkreis interessant. Auch die "Hyäne", eine von Bleachs Produzent auf sie angesetzte ehemalige Privatdetektivin, ist hinter ihnen her. "Weißt du noch, Vernon?", beginnt die Aufzeichnung, "wir haben unsere Jugend in einer Blase aus Panzerstahl verbracht". Es ist der bittere Lebensrückblick eines Rockers, der sich vom Markt vereinnahmen ließ und seinen Gram darüber mit Drogen vertrieb. Diese Kassetten sind der dramaturgische Motor des Romans. Jeder von Vernons Freunden hat seine eigenen Gründe, von ihrem Inhalt betroffen zu sein.

Die Autorin Virginie Despentes schneidet mit sarkastischem Geschick ihre Profile aus dem dargestellten Gesellschaftsmilieu. Da ist etwa der linke Universitätsdozent Sélim mit algerischer Herkunft. Dass die Umgebung ihn für einen Schlappschwanz hält, weil er seiner Frau Faiza das Abhauen ins Pornogeschäft bald verzeiht und die gemeinsame Tochter Aicha als vorbildlicher Vater allein erzieht, kümmert ihn wenig, obwohl gerade die Frauen am lautesten schreien - "sie mögen keine sensiblen Männer, sie wollen Ohrfeigen".

Ausgerechnet diese liberal und einfühlsam erzogene Aicha läuft dann aber einem sturen Islamprediger in die Hände, will partout das Kopftuch tragen und erfährt aus Bleachs Videoaufzeichnung vom Leben und Drogentod ihrer Mutter Faiza, alias Vodka Satana. Das Verhältnis zu ihrem Vater gerät in Schieflage, dessen Begeisterung für Godard und Pasolini, sein geselliges Weintrinken, sein Opernabonnement, seine Deleuze-Lektüre findet sie nur noch beschissen. Das ist alles ein bisschen krass, aber nicht total unglaubwürdig. Und so schreibt nun einmal die Autorin Virginie Despentes.

Dem wieder aufgetauchten Subutex folgt der Freundeskreis wie einem Guru von Ort zu Ort

Problematischer ist hingegen, dass das aus dem ersten Band übernommene Verfahren des erzählerischen Perspektivenwechsels zwischen den Protagonisten in diesem Buch nicht mehr recht funktioniert. Die Dynamik von Vernons Wohnungswechseln gab ihm dort einen Rhythmus. Hier wirken die Kapitel aneinandergereiht. Selbst wenn Vernon Subutex wieder auftaucht und der Freundeskreis ihm wie einem Guru in den Stadtpark, in die Bar "Rosa Bonheur" und bis nach Korsika hinterherläuft, verrät der Roman sein Fabrikationsrezept. Er ist arg brachial aus der Gegenwartsgesellschaft und ihren aktuellen Debatten gestanzt.

Der frustriert zu den Nationalpopulisten abdriftende Xavier ist für den linken Patrice schon immer ein "Arschloch" gewesen, denn er hat nie kapiert, dass der patriotische Dünkel der Einheimischen gegenüber den Fremden nur eine Notreaktion verlorener Würde ist, dass die moderne Wirtschaft das Volk nicht mehr braucht und es dazu gebracht hat, sich selbst abzuschaffen. Der etwas differenzierter denkende Sélim wiederum grämt sich über den linksliberalen Individualismus, der über das Recht der Frauen aufs Kopftuchtragen schwadroniert und Putins Demokratie für die Russen für ausreichend hält. Die Figuren werden zu literarischen Abziehbildern unserer Gegenwart.

Das nimmt dem Roman nicht seine Spannung, die Prägnanz der Situationsbeschreibungen und die Schärfe der Figurenzeichnung. Man lässt sich beim Lesen vom Fluss der Ereignisse und vom Schmiss der Dialoge tragen. Das liegt nicht zuletzt an der sehr gelungenen Übersetzung. Sie trifft exakt den aufgekratzten, zugleich schrillen und rauchig düsteren Ton des Originals, das jedem Anflug von Glücksahnung eine Ladung Sarkasmus verpasst. Zwischen der schon klassisch wirkenden Lakonik Michel Houellebecqs und den grellen Inferno-Visionen Elfriede Jelineks hat Virginie Despentes mit ihrem Vernon Subutex-Zyklus ein Gegenwartspanorama aufgespannt, das stets das Schlimme meint und oft das Nette schafft. Für nächsten September ist der dritte Teil der Trilogie angekündigt.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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