Französische Literatur:In brodelndem Nebel

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Dort, wo sonst nichts wächst, verkauft Tom alles, womit man glücklich und alt werden kann, alles - aber kein Popcorn. "Popcorn Melody" heißt Émilie de Turckheims literarischer Traumbericht aus den Great Plains.

Von Cornelius Wüllenkemper

"Ich schreibe so, wie man den Traum der letzten Nacht zu rekonstruieren versucht. Meine Figuren erfinde ich nicht, sie sind schon vor mir da." Wer die Romane der Französin Émilie de Turckheim zur Hand nimmt, glaubt ihr diese Auskunft über das eigene Schreiben aufs Wort. Die Geschichten und Figuren der 1980 in Lyon geborenen Autorin tänzeln und flimmern mit der Intensität von Traumbildern vor dem Auge des Lesers. "Im schönen Monat Mai" (Wagenbach, 2012) etwa jonglierte schwindelerregend mit Klischees über französische Provinzler und inszenierte dabei eine Mordserie vor albtraumhaft düsterer Kulisse. In "Héloïse est chauve" (Héloïse ist kahlköpfig) schilderte Turckheim dann eine verstörende Vision über die Liebe eines fünfmonatigen Säuglings zu einem 40-jährigen Mann. Auch Turckheims neuer, von Brigitte Große stilgetreu ins Deutsche übersetzte Roman "Popcorn Melody" liest sich wie ein spontan-assoziativer Fantasiebericht aus Versatzstücken der Realität.

Zwei ihrer Figuren heißen Tom S. Elliott und Emily Dickinson, was in einem konventionellen Roman eher albern wirken würde, in die verspulte Welt der Émilie de Turckheim aber bestens hineinpasst. In der Steinwüste der Great Plains östlich der Rocky Mountains, im "Mark der Schwärze", betreibt besagter Tom einen Supermarkt namens "Das Glück". Dort, wo sonst nichts wächst, keine Blume, kein funkelnder Gedanke und keine Hoffnung, verkauft Tom alles, womit man "glücklich und alt" werden kann: etwas, um nicht zu verhungern, sich zu waschen und Fliegen zu töten.

Vor allem aber verkauft er kein Popcorn. Der Bus, der in dem 1100- Seelen-Kaff namens Shellawick hält, spuckt ab und an einige Arbeiter aus, die auf dem Weg zum einzigen und damit allmächtigen Arbeitgeber sind, der Popcorn Fabrik Buffalo Rocks. Neben den erbarmungslosen Ausbeutern dieses Konzerns und den folgsamen Arbeitern, die sich für einen Hungerlohn totschuften, gibt es in Shellawick nur Steine, Hitze, Staub, ein hochprozentiges Gesöff namens Corny Dry, sehr viel Langeweile und noch mehr Mais.

In diesem trostlosen Umfeld hält sich Supermarktbetreiber Tom, Sohn einer Angehörigen des Kanza-Stammes, mit Kurzgedichten über seine spärliche Kundschaft und mit seinem "rasend langsamen" Romanprojekt namens "Leben und Tod eines Supermarktes" seelisch über Wasser. Seine Überzeugung, dass "in gewissem Ausmaß der Mangel doch ein Segen ist" wissen auch Toms Kunden zu schätzen, wenn sie auf dem alten Barbierstuhl neben der Kasse Platz nehmen und von ihren Gedanken erzählen. Dann allerdings raubt die Eröffnung eines klimatisierten Konsumtempels direkt gegenüber Toms Laden die Kundschaft und kurz darauf alle Hoffnung auf ein alternatives Glück im konformistischen Unglück.

Die Lösung ist denkbar einfach, jedenfalls im Roman: Tom verschenkt seine restliche Ware, kommt seiner große Liebe, der Kassiererin Emily Dickinson, näher und wird durch einen Song namens "Popcorn Melody" unversehens steinreich. Auch mystische Erfahrungen spielen in Toms glücklicher Selbstverortung eine Rolle. Zumindest erkennt er, dass "Autobiografien aus aufrichtigen Lügen gestrickt sind", sieht seine "Seele in Gestalt von bemalten Kugeln im brodelnden Nebel" vor sich und wird als "gefühlvoller, farbenprächtiger Staub mit menschlicher Stimme" im Universum verstreut.

Émilie de Turckheim verschreibt sich einem irrlichternden Realismus, in dem faktische Zusammenhänge in surreal überzeichnete Traumwelten überführt werden. Das verbindet sie mit anderen Autorinnen ihrer Generation, etwa mit Juliana Kálnays kuriosem Wimmelbild einer modernen Hausgemeinschaft oder Julia Decks schwerelosem Roadtrip einer jungen Frau, die unter wechselnden Identitäten ihre Spielräume austestet. Hier wie da enthüllen traumwandelnde Erzählhaltungen und grotesk anmutende Szenerien wie nebenbei neue Erkenntnisse über reale Zusammenhänge.

Auch Émilie de Turckheim erzählt ihre Geschichte über das Leben in den Great Plains entlang einer assoziativen Schnur, die stets mit der Realität verknüpft bleibt. Nicht immer laufen die Fäden zwischen Konsumkritik der Gegenwart, dem Verlust des indigenen Kulturerbes, Shellawicks tiefbösem Bürgermeister, Toms literarischen Ambitionen und einem um sich schießenden Literaturagenten logisch erkennbar zusammen. Das wäre auch ziemlich untypisch für einen Traum über die Wirklichkeit. Es ist die höchst eigenwillige Erzählstimme, die Émilie de Turckheims "Popcorn Melody" zusammenhält.

© SZ vom 23.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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