Französische Gegenwartsliteratur:Ansichten eines Mörders

Lesezeit: 4 min

Der bretonische Autor Tanguy Viel entwickelt in seinem neuen Roman "Selbstjustiz" aus einem Krimiplot eine hintergründige Geschichte über Immobilienspekulation, Betrug und Selbstbetrug.

Von Hans-Peter Kunisch

Die aktuellste Variante des klassisch-klischeehaften "Immobilienhais", ist der Investor, der im Mode-, Würstchen- oder Sanitärgeschäft auf unüberblickbare Weise reich geworden ist. Geschickt in Kauf und Verkauf, oder auch nur passend beraten, versucht er, sein Vermögen jetzt im Immobilienhandel zu vermehren. Der Bretone Tanguy Viel, 1967 in Brest geboren, ein so begabter wie erfolgreicher Autor ironisch-verquerer, genreaffiner Bücher mit Neigung zum Krimiplot, hat den Investor Antoine Lazenec in seinem neuen Roman "Selbstjustiz" anders gestaltet. Lazenec hat selber nicht ungeheuer viel Geld. Aber er schafft es, Leute, die mit dem ihrigen nicht umgehen können, in seinen Bann zu ziehen.

So erscheint Lazenec, ein Mann mit spitzen Schuhen, eines Tages in einer Fünftausendseelen-Gemeinde, die auf einer Halbinsel gegenüber von Brest müde dahinlebt. Er kauft das große, alte, heruntergekommene Haus, das Einheimische gern als Schloss bezeichnen. Er schafft es, sich ins Vertrauen der Dörfler zu drängen und als Erlöser aus der Langeweile gefeiert zu werden. Vor allem aber bringt Lazenec die üppig abgefundenen Angestellten einer aufgegebenen Marinebasis dazu, in seine Pläne für die Umgestaltung des Schlossgeländes zu investieren: ein Seebad! Aufwendig konzipierte Eigentumswohnungen! Diese Wohnungen entstehen nie. Nur das Geld der kleinen Investoren-Kollegen, damals je eine halbe Million Francs, ist weg.

Jahre später, gleich zu Beginn von "Selbstjustiz", treibt ein Mann im Meer und ruft um Hilfe: "Kermeur, was soll der Scheiß! Und er benutzte noch Wörter wie ,verdammt noch mal', ,sind Sie wahnsinnig' oder ,das können Sie nicht tun'. Offenbar dachte er, damit könne er mich umstimmen. Aber nein, das kam natürlich nicht infrage. Und ich spürte schon, sogar die Möwen, weiß und kalt wie Krankenschwestern, die niemals zwinkern, sogar die Möwen teilten diese Ansicht."

Der Hilflose, der da gerade gelassen abserviert wird, ist Lazenec selbst. Der Ich-Erzähler Martial Kermeur, einer der Abgefundenen und Betrogenen, hat ihn über Bord gestoßen, nachdem Lazenec ihm gnädig seinen gerade gefangenen "ersten Hummer" angeboten hatte. Du schuldest mir weit mehr, wird sich Kermeur gedacht haben. Aber es hat eine Weile gedauert, bis es zu diesem Showdown kam. Nichts, so Kermeur in seiner Lebensbeichte vor dem Untersuchungsrichter, hält Betrogene aufrechter, als die absurde Hoffnung, dass es doch keine Dummheit war, dem Kerl das Geld anzuvertrauen. Als habe der Betrüger dem Opfer die Selbstachtung genommen und nur die Scham beschert. Als könne alles wieder heil werden, wenn der Typ sein Wort doch noch hält und sich als Ehrenmann herausstellt.

Schon der Auftakt von "Selbstjustiz" serviert Opfer und Täter. Was kann da noch kommen, mag man sich fragen. Doch die allmähliche Auffaltung der Geschehnisse, die Ergänzung und Ausformulierung von Details, die Andeutung von Begründungen hat gerade erst begonnen. Die Anhörung durch den Richter füllt nahezu das ganze Buch. Tanguy Viel nutzt sie, um seine Charaktere und den weiteren Plot kunstvoll verzögert zu entwickeln. Mit trockenem Humor streut er immer neue Köder. Warum hat Bürgermeister Le Goff Selbstmord begangen? Was hat der Sohn Kermeurs verbrochen? Warum sitzt er, während sein Vater vom Richter befragt wird, hinter einer Glasscheibe? Es heißt nur, der Junge habe sich "Dummheiten" geleistet, aber kann man mit etwas Understatement nicht alles Mögliche so nennen?

Natürlich gibt es in der Literaturgeschichte schon Erzählungen aus der Sicht von Mördern. Einen derart harmlosen wie den rechtschaffenen, aber zugleich sehr überlegt vorgehenden Martial Kermeur muss man jedoch lange suchen. Leute wie Lazenec kommen immer davon, wenn man es nicht selbst besorgt, musste Martial denken. Auch da hat er womöglich recht.

Die Sozialisten haben ihre Ziele aus den Augen verloren und sich selbst verkauft

Jeder Winkel von Tanguy Viels oft aparten Sätzen, die Hinrich Schmidt-Henkel, bis auf den ersten, kaum verständlichen Abschnitt, sehr gut ausgeleuchtet hat, bietet überraschende Perspektiven. Die Whodunnit-Spannung ist sekundär, es geht um die Frage "wie konnte das geschehen", gestellt ohne moralinsaures Gejammer, verschränkt mit einer schnellen, aphoristischen literarischen Philosophie.

Das führt zu einer zunehmenden Verrätselung und symbolischen Anreicherung des Geschehens. Der Ich-Erzähler räsonniert über das Kapital und die Kapitalisten, aber auch über das eigene Pech mit dem Geld. Es geht nicht nur um den Betrug. Über Jahre spielt er Lotto, verfolgt jede Ziehung und gewinnt nie etwas. Bis an diesem einen Abend seine immergleichen Zahlen kommen. Darauf verlässt ihn seine Frau. Ist sie verrückt? Nein, Martial hat nicht abgestempelt. Statt glücklicher Triumphator über das Schicksal, ist er nurmehr ein vergesslicher Trottel.

Dass die Verlassende France heißt, ist nicht ganz zufällig. Ein guter Teil der Reflexionen Kermeurs ist politisch. Er selber ist, wie der Bürgermeister, Sozialist und saß eine Zeit lang im Gemeinderat seines unbedeutenden Dorfs. Dass Mehrheitssozialisten auf halbseidene Kapital-Betrüger reinfallen, ist eine hübsche Geschichte, die auch das Leben immer wieder schreibt. Hier gibt sie dem Geschehen eine weitere ironisch-kommentierende Note. Die Sozialisten haben nicht nur Frankreich und ihre Ziele aus den Augen verloren. Sie haben sich selber verkauft.

Die Hoffnung liegt, wenn es sie gibt, auf der nächsten Generation. Und tatsächlich ist der Sohn Kermeurs, der beim Vater geblieben ist, ein interessanter Charakter, ein Eigenbrötler, mit einem ordentlichen Schuss Protestgeneration. Der Sohn muss das ungeschickte Leben und Leiden des allein gelassenen Erzeugers mit ansehen. Er spürt die Demütigungen, die Lazenec dem Vater bereitet und beschließt, diesen zu rächen. Wie Kermeur, der Jüngere, diesen Entschluss ausführt, ist zu schön, um es zu verraten. Und am Ende der Lebensbeichte des Vaters trifft der Richter eine überraschende Entscheidung.

Tanguy Viel: Selbstjustiz. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 168 Seiten, 20 Euro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 05.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: