Frankreich:Karl der Große, unser Kaiser

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Mobiler Eisstand am Strand von Calais, Frankreich. (Foto: Frank Schirrmeister/Ostkreuz)

Der Autor Karim Miské hatte sich nach dem großen, geeinten Europa gesehnt. Es war wie eine Hoffnung auf Befreiung.

Von  Karim Miské

Als ich klein war, haben sie im Fernsehen dauernd von einer seltsamen Sache geredet: "Das Europa der Sechs". Europa, das kannte ich, das war der Kontinent, in dem Frankreich lag, das war bei mir. Aber ein Kontinent besteht doch aus mehr als sechs Ländern. Was hatten die sechs Spezielles, was die anderen nicht hatten? Irgendein geheimes Etwas, das Ländern wie Österreich oder Irland unerreichbar war?

Zur selben Zeit quälte mich noch eine andere geografische Frage. Es war am Ende der Grundschulzeit, in dem Jahr, in dem das Europa der Sechs dem Europa der Neun Platz machte. In Geschichte hatten wir Karl den Großen, den unsere Lehrerin uns als französischen Eroberer vorstellte. Lernbegierig fragte ich sie, wo denn dieses Aachen liegt. Ich hatte den Eindruck, dass dies gar keine französische Stadt sei. Sie überging die Frage, und ich musste lange auf meine Oma, die selbst Lehrerin war - streng republikanisch, laizistisch und anti-deutsch -, einquengeln, bis sie schmallippig damit rausrückte, dass Aachen zum Erzfeind gehöre. Aber dass ich das bloß nicht missverstehen solle, denn Karl der Große war ein französischer Eroberer! Das war einer von uns. Das waren wir.

Eigentlich schade. Jahre später, als ich eine Karte des karolingischen Imperiums sah, stellte ich fest, dass es ungefähr dasselbe Gebiet umfasste wie das Europa der Sechs. Wenn wir damals zugegeben hätten, dass wir eine gemeinsame Geschichte teilen, hätte uns das sicher geholfen, diesem technokratischen Gebilde, das so grauenhaft unsexy ist, einen anderen Sinn zu verleihen.

Ich habe mich nach diesem Europa gesehnt. Es war wie eine Hoffnung auf Befreiung

Karl der Große stellte mich aber vor noch ein anderes Problem: Roland, sein Neffe, hatte sich am Col de Roncevaux hinterrücks von Sarazenen meucheln lassen. Unmöglich, eine französische Schule zu besuchen, ohne auf das Rolandslied zu stoßen, das seine traurige Geschichte erzählt. Als ich bei diesem Thema nachfragte, überging meine Lehrerin die Frage diesmal nicht. Im Gegenteil, sie erklärte mir sofort, dass die Sarazenen Araber waren, ungefähr solche wie ich. Denn auch wenn meine Mutter Französin war, waren mein Vater, mein Name und mein Aussehen unleugbar arabisch. Was bedeutet, dass ich in Frankreich nach dem Algerienkrieg nicht gerade den allerbesten Platz innehatte. Viel später habe ich gelernt, dass einige Historiker behaupten, in Wahrheit hätten Basken diesen Roland getötet. Wenn ich meiner Lehrerin diese Version der Geschichte erzählt hätte, wäre sie in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Was Karl den Großen angeht, so erzählte man uns, dass er die Schule erfunden hat, was ihn zu einer Vaterfigur für alle französischen Schüler mache. Einer Figur, die leider mehr dazu benutzt wurde, uns auseinanderzudividieren als uns zu einen: die kleinen Franzosen von den Deutschen, den Niederländern, den Italienern, indem ihnen allen nicht beigebracht wurde, dass sein Reich im Grunde uns alle umfasste. Die kleinen Franzosen wurden dann noch mal auseinanderdividiert, indem man den Weißen beibrachte, dass dieser tapfere Roland, der alle ritterlichen Tugenden auf sich vereinte, von den Arabern getötet worden war. Ohne darüber nachzudenken, dass ja jetzt die einen wie die anderen in einer Klasse saßen und morgen ein und dasselbe Land aufbauen sollten. Da haben Europa und die französische Nation einen ordentlichen Fehlstart hingelegt.

Trotzdem, als ich größer wurde, habe ich mich nach Europa gesehnt. Es war für mich wie eine Hoffnung auf Befreiung. Darauf, dass dort die engen Identitäten endlich abgeschüttelt werden, in denen wir festgehalten werden sollten, indem man uns Geschichten von Karl dem Großen und andere verstümmelte Nationalmythen erzählte. Europa würde uns besser machen, so viel war klar. Wir würden den Imperialismus vergessen, zurückfinden auf den Weg der Aufklärung, und aus Karl dem Großen den erträumten Kaiser von uns allen machen. Von Franzosen, Deutschen, Basken und Sarazenen.

Karim Miské, geboren 1964 in Abidjan (Elfenbeinküste), lebt als Autor und Dokumentarfilmer in Paris. Auf Deutsch erschien von ihm der Krimi " Entfliehen kannst du nie"(Bastei-Lübbe). Übersetzung von Alex Rühle.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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