Frankfurter Buchmesse 2010:Beim Altherrenausstatter

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Das sterbende Tier Mann: Adam Thirlwells zweiter Roman "Flüchtig" erzählt von einem alten Erotomanen, der in einem Kurhotel im Jogginganzug auf Beute lauern muss.

Christopher Schmidt

Im Grunde habe es nur zwei Frauen in seinem Leben gegeben, räsoniert Haffner: Livia und alle anderen. Livia, das ist seine Ehefrau, und alle anderen, das sind die Frauen, mit denen er Livia betrog. Haffner heißt der komische Held von Adam Thirlwells zweitem Roman, und anders als sein promisker Protagonist erweist sich der britische Autor als treu -zumindest, was sein Thema angeht: Sex. Schon sein Debütroman "Strategie", der bei uns 2004 herauskam, war eine erotische Lotterie für drei Spieler, die mit immer höherem Einsatz auf ihre Lüste wetten.

 Haffner hat da seine Ehefrau - und all die anderen: Adam Thirlwells "Flüchtig" hat in seinem leichtfüßigen Parlando etwas Tänzelndes und Tändelndes; es ist ein ballettöser, burlesker Roman, der seine buffoneske Hauptfigur episodisch umspielt. (Foto: AP)

Das Buch wurde bereits als einer der zwanzig besten englischen Gegenwartsromane gehandelt, bevor es veröffentlicht war, und der damals 26-jährige Thirlwell galt als literarisches Wunderkind. Es gab aber auch kritische Stimmen, die den Erstling als ebenso frühreif wie altklug empfanden. Vor allem an seiner Manieriertheit und Geschwätzigkeit stießen sich einige Rezensenten.

Auch das neue Buch "Flüchtig" (The Escape) hat in seinem leichtfüßigen Parlando etwas Tänzelnden und Tändelndes; es ist ein ballettöser, burlesker Roman, der seine buffoneske Hauptfigur episodisch umspielt, Thema und Variation - eine "Haffneriade", wie der Autor das nennt. Gereift im Vergleich zum ersten Buch ist zunächst einmal das Personal des Romans. Thirlwell schreibt nicht wie in "Strategie" über seine eigene Generation, sondern widmet sich den erotischen Niederlagen und Demütigungen eines Roués im vorgerückten Alter. Dieser Haffner, britischer Jude, Banker im Ruhestand und Kapitalist durch und durch ist in ein ehemals kommunistisches Land in Südosteuropa gereist, um dort die Restitution einer Villa voranzutreiben, die der Familie seiner verstorbenen Frau gehörte, bevor sie von den Nationalsozialisten enteignet wurde. Das einstige Feriendomizil wieder in Besitz zu nehmen, betrachtet Haffner als nachgetragenen Liebesdienst an seiner Frau, Wiedergutmachung für die Jahre an seiner kaltherzigen Seite.

Von den örtlichen Behörden gegängelt, immer wieder hingehalten und behindert durch das obstruktive Zusammenwirken von Bürokratie, Korruption und provinziellem Phlegma, sieht sich Haffner zurückgeworfen auf die überschaubaren erotischen Offerten eines Kurhotels am Rande der Alpen, das er sich als "lustvolles, tuberkulöses Treibhaus" ausgemalt hatte, dessen Morbidezza jedoch bestens zu seinem mürben Gemütszustand passt. Das Land wird im Roman nicht genannt, es kann sich aber angesichts des nahen Hochgebirges, mit dem wohl die Julischen Alpen gemeint sind, nur um Slowenien handeln.

Wie zum Hohn ist auch noch Haffners Koffer verloren gegangen, so dass er auf Tweedanzug und Einstecktuch verzichten und mit der Freizeituniform des sportiven Rentners Vorlieb nehmen muss: dem Jogginganzug. In diesem Tarnkleid mischt sich der 78-jährige Sexmaniak, von dem es heißt, "er schätzte Eigenarten wie Feigheit, Obszönität, Charme und lose Moral. Er hatte Schneid" unter die arglosen Kurgäste und lauert auf Beute. Eher uninspiriert stolpert er dabei in eine Affäre mit einer matronenhaften Mittfünfzigerin hinein, deren welkes Fleisch allerdings nur unter dem Spitzenschleier eines romantischen Abenteuers in Wallung gerät. Dafür ist Haffner nun genau nicht der Mann. Alter und Potenznot fordern ihren Tribut in Form schärferer Reize. Und so hockt er in der Eingangsszene seiner unmoralischen Komödie in einem Kleiderschrank und schaut seiner Geliebten, der jungen Yogalehrerin Zinka, dabei zu, wie sie es mit einem anderen treibt. Und lässt es geschehen, dass die kräftigen Hände des Hotelmasseurs sich in Tabuzonen seines Körpers verirren.

In diesen kompromittierenden, von Thirlwell aber farcenhaft aufgefassten Verwicklungen und Kapriolen erschöpft sich der Plot von "Flüchtig". Allzu patent ist die Handlung gestrickt, jeder rote Faden wird sauber vernäht im Motivgeflecht. Das geht so weit, dass Haffner sich die Verkühlung, mit der schließlich sein langes Sterben beginnt, ausgerechnet durch einen Sprung in den kalten See zuzieht, den er nur wagte, damit Zinka nicht sein Verhältnis mit der entflammten Frau Tummel entdeckt. Ein alter Schwerenöter findet den Tod auf der Flucht aus dem Schlafzimmer, das nennt man poetische Gerechtigkeit.

Dass aber die Fallhöhe des lächerlichen Frauenhelden nicht höher ist als die nächste Bettkante, birgt ein Risiko, das der Roman nicht wirklich tragen kann, obwohl er es sehr bewusst eingeht. Einerseits traktiert Thirlwells allwissender Erzähler, der Haffners Enkel sein könnte, seinen Protagonisten, als wäre er "ein Nadelkissen für die bunten Plastikpfeile des siegreichen Kindergottes: Cupido", mit geradezu sadistischer Hingabe. Andererseits betreibt er maßlosen Aufwand, um die bittersüßen Qualen Haffners ins Allgemeingültige zu überhöhen.

Säulenheilige werden aus dem Zettelkasten herbeizitiert

Mit zahllosen gelehrten Anspielungen und akademischen Verweisen wie mit bunten Federn gespickt, wirkt der Roman überinstrumentiert und kommt daher wie aus dem Kostümverleih. Der Held dieser Donquichotterie wird zum Popanz des verspielten literarischen Herrenausstatters Adam Thirlwell. Das Übermaß bringt die Mittel um ihren beabsichtigten Effekt. Ständig müssen Säulenheilige aus dem Zettelkasten herbeizitiert werden, um Haffner zu stützen. So nennt Thirlwell in einer Nachbemerkung rund fünfzig Dichter der Weltliteratur, die er versteckt zitiert hat, von W. H. Auden bis Virgil. Dabei fällt auf, dass der Schriftsteller, dessen Einfluss sich in "Flüchtig" am stärksten geltend macht, nicht genannt wird: Philip Roth, der Meister des garstigen Satyrspiels um das sterbende Tier namens Mann.

Die Ära der Haffners, schreibt Thirlwell, "war ein Interregnum: eine Pause" und: "Im Grunde war es gar keine Ära". Offenbar soll Haffners Leben, dessen Finale zusammenfällt mit dem Ende des Jahrtausends, hochgetrommelt werden zu einem Schicksal, das exemplarisch ist für den spätantiken Hedonismus nach dem Ende der großen Erzählungen. Unter diesem Anspruch ächzt der Roman angestrengt. Über weite Strecken hat er den Charakter einer Apostrophe, einer Anrufung. Und doch bleibt Adam Thirlwell eine Erklärung schuldig, warum er sich so tief in die Sexualpein einer Figur versenkt, die mehr als doppelt so alt ist wie er selbst. Es sei denn, es ginge nur darum, das Publikum durch seine Anverwandlungskünste zu verblüffen.

Thirlwells frühvollendeter Stil ist auch noch in Hennings Ahrens' weniger pompösen Übersetzung von artistischer Selbstgenügsamkeit, bis hin zu so gesuchten Vokabeln wie "Oubliette", "Queste" oder "Dschinn". Aber dass Thirlwell sich außer in feinsinnigen Reflexionen oft in Anekdoten verliert, hat auch mit dem jüdischen Erbe zu tun. Die Passagen über das Dilemma der Assimilation gehören zu den besten des Buches. Blond und blauäugig wie er ist, fühlt sich Haffner als Engländer, nicht als Jude. Die Identifikation geht so weit, dass er, als er im Zweiten Weltkrieg in Palästina stationiert ist, nicht versteht, warum es ihm nicht zumutbar sein soll, auf Menschen aus seinem eigenen Volk zu schießen. "Die hiesigen Juden sind nicht meine Jungs", sagt er.

Seinen Niedergang als Mann erlebt Haffner denn auch als Rache der verleugneten Herkunft. Zu lange hatte er sich der Täuschung hingegeben, seiner Geschichte und der des Jahrhunderts entfliehen zu können, einer "Minderheitssekte mit genau einem Mitglied" anzugehören, und geglaubt, dass es im Leben ist wie beim Cricket, wo man Sieg und Niederlage nie genau unterscheiden kann.

Zumindest der Roman hat eine echte Gemeinsamkeit mit dem Cricket. Zu dessen Tradition gehört es, dass die Schiedsrichter die Mützen der Spieler halten müssen, wenn diese ihnen hinderlich sind - eine Demutsgeste gegenüber dem accomplished gentleman. Auch als Leser von "Flüchtig" fühlt man sich zum Garderobenständer eines Autors degradiert, der als literarischer Oberklassensportler seine kunstvollen Spielzüge vorführt.

Adam Thirlwell, "Flüchtig", Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 384 S., 19,95 Euro.

© SZ vom 05.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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