Flämische Literatur:Alles ist in Gefahr

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Stefan Hertmans lebt bei Brüssel und in Südfrankreich. Dort hat er direkt vor seiner Haustür eine alte Fluchtgeschichte aus der Zeit der Kreuzzüge entdeckt und daraus einen europäischen Roman gemacht.

Von Lothar Müller

An zwei Orten lebt der Schriftsteller Stefan Hertmans, in der Nähe von Brüssel und in einem südfranzösischen Dorf unweit des Mont Ventoux. Und in ihm lebt, was man die europäische Unruhe nennen könnte, eine feine Witterung für Bruchlinien und Risikozonen, für die explosiven Elemente in Sprache, Kultur, Religion. Seine Papiere weisen ihn als Belgier aus, der 1951 in Gent geboren ist, seine Bücher als flämischen Autor, der auf Niederländisch schreibt. Der Staat, dessen Bürger er ist, droht gelegentlich von den Spannungen zwischen Flamen und Wallonen zerrissen zu werden. In seinen Essays und Interviews begegnet er dieser Spannung mit Gelassenheit, aber in dieser Gelassenheit verschwindet die Unruhe so wenig wie in der nachsichtigen Ironie, mit der er auf das Europaviertel in Brüssel blickt, die Hauptstadt der Europäischen Union. Wenn er auf Buchmessen auf einem Podium sitzt, wechselt er mühelos vom Französischen ins Englische oder auch Deutsche.

Aber es gibt bei ihm keinen schwerelosen Kosmopolitismus, dafür ist seine Bodenhaftung zu groß, die Bindung an die Orte, an denen er aufgewachsen ist und lebt. Aus dieser Ortsbindung geht seine Literatur hervor, seine Art des Erzählens, die Dynamik seiner Einbildungskraft. Wer seine Herkunftswelt kennenlernen will, der greife zu seinem Roman "Der Himmel meines Großvaters" (2014). Im Original heißt er "Krieg und Terpentin", weil dieser Großvater in Gent der Sohn eines Kirchenmalers unter katholischen Handwerkern war und selber gern mit den Farben hantierte, ein talentierter Kopist der großen Meister, den es im Ersten Weltkrieg in das Grauen der belgischen Frontabschnitte verschlug.

Das Gegenüber der Großeltern und Urgroßeltern in diesem Roman war der Enkel und Urenkel, der erst spät die Hinterlassenschaften der Familie erkundet, Friedhöfe, Kirchen und Museen aufsucht, Fotos in einem Album betrachtet, in den Heften mit den handschriftlichen Memoiren des Großvaters dessen traurige Liebesgeschichte entdeckt und sich nicht scheut, in den Passagen über die Schlachtfelder die Rolle des nachgeborenen Chronisten zu verlassen und in die erste Person Singular zu schlüpfen. Das haben ihm manche Leser als eine Art Quellenfälschung übel genommen. Es war aber ein sehr strenges, allem Fabulieren abholdes Sprachexperiment, der Versuch, einer historischen Erfahrung mit den Mitteln der Einbildungskraft einen gültigen Ausdruck zu geben.

Jahrelang hat Stefan Hertmans an seinem neuen Roman, "Die Fremde" gearbeitet. Wieder ist es ein Buch der Bodenhaftung, eine Erzählung aus dem Nahbereich, die sich ins Europäische weitet, eine in die Vergangenheit gerichtete Halluzination. Ausgangspunkt ist der französische Wohnsitz des Autors in Monieux im Département Vaucluse. Im Archiv, in der Bibliothek und auf Reisen hat er der Geschichte nachgespürt, die sich zur Zeit des Ersten Kreuzzuges im späten 11. Jahrhundert vor seiner Haustür zugetragen hat. In den Ruinen oberhalb des heutigen Dorfkerns hat er nach Überresten des jüdischen Viertels gesucht, das es gegeben haben muss, wenn seine Hauptquelle nicht trügt, das Dokument "T-S 16.100" aus der "Cairo Genizah Collection" in der Handschriftenabteilung der University Library von Cambridge.

Seit dem 19. Jahrhundert liegt das hebräische Manuskript in England, eingerissen und an einigen Stellen durchlöchert, aber noch gut lesbar. Geschrieben hat es der Rabbi Joshua Obadja aus "MNYW", so lautet der Ortsname, wenn man ihn aus den hebräischen Buchstaben transkribiert, die Stefan Hertmans seinem Buch vorangestellt hat. Die Gelehrten sind sich nicht einig, ob damit sein Monieux gemeint ist oder der Ort Muño bei Burgos in Nordspanien. Aber seit Stefan Hertmans an seinem Berghang das Wasserbecken eines jüdischen Bades gefunden hat, einer Mikwe, ist er überzeugt, dass Joshua Obadjas Brief in Monieux geschrieben wurde.

Es berichtet vom Schicksal einer Christin, die ihre Familie verließ und zum jüdischen Glauben übertrat, um David aus der Familie Todros in Narbonne zu heiraten, und von dort floh, um ihren Verfolgern zu entgehen. Dauerhafte Sicherheit aber fand das Paar durch die Flucht nach Monieux nicht. Bei einem Pogrom durchziehender Kreuzritter wird David ermordet, zwei Kinder des Paares werden geraubt, der Brief des Rabbis von Monieux soll die mittellose Witwe, die mit einem weiteren Kind zurückbleibt, dem Schutz einer fernen jüdischen Gemeinde empfehlen.

Der Roman trägt ein Motto aus Thomas Manns "Joseph und seine Brüder": "... aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier". Er beginnt mit einem Tagtraum, in dem der Autor am frühen Morgen vom Fenster seines Hauses in Monieux aus das flüchtende Paar auf das Dorf zuwandern zu sehen glaubt. "Der Berg des Jupiter" heißt dieses erste Kapitel, nach dem alten Namen von Monieux, Mons Jovis. Fast alle Kapitel, die folgen, werden ebenfalls Ortsnamen tragen, Rouen, Narbonne, Kairo, Najéra, Cambridge.

Der Autor reist seinen Figuren nach, glaubt in einer alten Skulptur seine Heldin wiederzuerkennen, blättert in Büchern, Chroniken und Manuskripten, während er von seinen Figuren erzählt. So wird aus der namenlosen Proselytin des hebräischen Manuskripts in Cambridge die Tochter eines zum Christentum bekehrten Normannen in Rouen. Geboren 1070, vier Jahre nach der Schlacht von Hastings, erhält sie den nordischen Namen Vigdis und als Beinamen Adelaïs, nach der flämischen Großmutter mütterlicherseits. Die Liebesgeschichte, die den zum Studium nach Rouen geschickten Sohn des Oberrabbiners von Narbonne mit der blonden Christin zusammenführt, folgt dem Muster, das Magister Abaelardus und die junge Äbtissin Héloise berühmt machen werden: "Eines Tages beugen sie sich gerade über eine Schriftrolle, als geschieht, was geschehen muss. Ihre Hände berühren sich, ihre Gesichter wenden sich einander zu, der kleine Raum erscheint plötzlich zu klein für die großen Wünsche, die sie hegen."

Das ist die Urszene der Katastrophe, die in diesem Buch ihren Lauf nimmt, der Beginn der Verwandlung der Christin Vigdis Adelaïs in die Jüdin Hamutal in einer Zeit, in der in Rouen wie in Südfrankreich die Pogrome gegen jüdische Gemeinden den großen Mobilisierungsprozess begleiten, in dem sich nach der großen Rede des Papstes Urban II. über den "Heiligen Krieg" in Clermont 1095 die Heere für den Ersten Kreuzzug gegen die Sarazenen in Jerusalem formieren. Die Fluchtbewegung des Paares, dem die christlichen Häscher aus Rouen nachstellen, und das Heer der Ritter, Abenteurer und Entwurzelten trifft beim Massaker von Monieux zusammen, das David nicht überlebt.

Dieses Buch schlägt die Form des historischen Romans aus und mit ihr den in sich ruhenden Erzähler

"Als der Morgen graut, kehrt Ruhe ein. Überall liegen Leichen, in der Synagoge schwelt noch das Feuer, das jüdische Viertel ist ein einziger Schutthaufen, und zwischen den durcheinanderliegenden, entstellten Körpern schnüffeln Hunde." Das geschieht knapp nach der Mitte des Buches, fortan ist es die Geschichte der endlosen Such- und Fluchtbewegung der jungen Witwe, die ihre Kinder bei den Kreuzzüglern in Jerusalem zu finden hofft, über Marseille und Palermo nach Alexandria und Kairo nur gelangt, weil sie die Liebesdienste leistet, die ihre Beschützer, die Kaufleute, verlangen.

In Kairo gelangt der Roman an seine Quelle. Der Autor besucht die Ben-Esra-Synagoge in der Altstadt, blickt in die "Geniza", das dunkle Loch, in das Tausende hebräisch geschriebene Manuskripte und Dokumente geworfen wurden, weil es unstatthaft gewesen wäre, Schriftzeichen, die der Verehrung Gottes dienten, zu vernichten. In Cambridge berührt er das Original des Rabbi Obadja, über seinem Schreibtisch in Monieux hängt eine Kopie, während seine Protagonistin in Kairo noch einmal heiratet, noch einmal nach Narbonne aufbricht, auf dem Weg dahin fast verbrannt wird und immer tiefer im Wahn versinkt, bis sie schließlich Monieux erreicht.

Dieses Buch ist ein Vergegenwärtigungsprojekt. Die Form des historischen Romans schlägt es aus und mit ihr das Imperfekt einer in sich ruhenden, zurückblickenden Erzählerstimme. An ihre Stelle tritt die Obsession der Nähe, die an den Dokumenten entzündete Einbildungskraft. Im Präsens tritt sie an die Seite der Figuren und scheint sich gelegentlich an den Ekstasen der Liebenden und dem Delirium der entlaufenen Christin angesteckt zu haben, die im Aufschwung der Pogrome und Kreuzzüge untergeht. Nie macht diese fiebrige Einbildungskraft ein Hehl daraus, dass sie ein mögliches in ein wirkliches Geschehen verwandelt. Sie schöpft aus historischem Wissen, wenn sie das Europa der christlichen Mobilmachung als eine Gefahrenzone vor Augen stellt, aus der die Fluchtwege nicht hinausführen. Aber die Unruhe dieses Autors ist aus der Gegenwart Europas hervorgegangen.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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