Filmfest: Eröffnungsfilm:Nackt unter der Sonne

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Das 33. Münchner Filmfest eröffnet mit Viggo Mortensen, der auf Albert Camus' Spuren durch die algerische Wüste zieht.

Von Rainer Gansera

Daru hat eine knappe, nüchterne Art, aber beim Abschied von seiner Schulklasse zittert seine Stimme doch: "Ich bin stolz, euer Lehrer gewesen zu sein!" Er verabschiedet seine Schüler an der Tür, zuletzt tritt ein Junge heran, überreicht ihm eine Zeichnung und flüstert ihm etwas ins Ohr. Eine kleine, gar nicht pathetisch betonte Geste des Vertrauens und der Dankbarkeit, die aber doch die zentrale Frage dieses Films stellt: Warum liegt Brüderlichkeit, das menschlich am nächsten liegende, den Menschen so fern?

Für "Loin des hommes/Den Menschen so fern" hat der französische Regisseur David Oelhoffen die Kurzgeschichte "Der Gast/L'Hôte" von Albert Camus adaptiert. Daru ist Dorflehrer im Algerien der fünfziger Jahre, da geht es um Fragen, die heute längst in Vergessenheit geraten sind. In seinen Arbeitsentwürfen zu der Kurzgeschichte, die damals, etwa 1954, noch "Die Hochebenen und der Verurteilte" betitelt war, notierte Camus: "Die Nomaden sind arm und elend, aber dem Gast geben sie alles!" Auch der Lehrer Daru wird nun einen Gast haben, und er wird ihm alles geben, obwohl dieser Gast ein Mörder ist.

Ein Weltreisender: In David Oelhoffens "Loin des hommes/Den Menschen so fern" spricht Viggo Mortensen ein erstaunlich überzeugendes Französisch. (Foto: Filmfest)

Zu Beginn weite Panoramaschwenks über das nordafrikanische Atlasgebirge, eine karge, schroffe, majestätische Landschaft. Auf einem einsamen Hochplateau liegt das Schulgebäude, in dem Daru unterrichtet und auch wohnt. Spartanisch, einsiedlerisch, wie er es liebt. Als Kind andalusischer Einwanderer wuchs er in Algerien auf, war Offizier der französischen Armee und nach dem Krieg glücklich, Lehrer zu werden.

Als 1954 die ersten Angriffe algerischer Rebellen gemeldet werden, wird er gewarnt - in der Nähe habe man einem französischen Lehrer die Kehle durchgeschnitten. Daru aber glaubt sich in Sicherheit - bis er den Auftrag bekommt, einen Araber namens Mohamed, der einen seiner Cousins ermordet hat, in die nächste Stadt zu bringen. Dort soll Mohamed vor Gericht gestellt und zum Tod verurteilt werden. Zuerst weigert sich Daru. "Das sinnlose Verbrechen dieses Mannes empörte ihn", schreibt Camus, "aber ihn auszuliefern ging gegen die Ehre: der bloße Gedanke daran war eine Demütigung, die ihn rasend machte."

Daru behandelt Mohamed also wie einen Gast, bereitet ihm Speise und Lager, riskiert sogar sein Leben, um ihn gegen Verwandte des Ermordeten, die auf Blutrache sinnen, zu verteidigen. Sie beginnen ihren gemeinsamen Weg durch die Wüste, durch Sandstürme, Wolkenbrüche und die Wirrnisse der Zeit. Zwischen Aktion und Meditation erzählt David Oelhoffen, wie sich die beiden näherkommen - und Daru den Mann, den er anfangs für einen Feigling hält, verstehen und respektieren lernt.

Oelhoffen gelingt ein Neuzeit- Western, der Camus' Themen in sich aufnehmen kann

Camus' Geschichte ist knapp gehalten, aber Oelhoffen hat sie von Anfang an als Western visualisiert, dramaturgisch und ikonografisch, und Viggo Mortensen als Daru fügt sich bestens in die mythische Kontur der Landschaft. Ein physischer Akteur, der Gefühle nicht theatralisch ausspielt, sondern in gestischer Konzentration aufleuchten lässt. Wer Mortensens berühmteste Rolle vor Augen hat, den Aragorn in der "Herr der Ringe"-Trilogie, staunt, wie gut ihm der Schritt aus dem Fantasyreich in diese Wüstenwelt gelingt, welchen Beziehungsreichtum er zu den Kindern und zu Mohamed entfaltet, den Reda Katep brillant verkörpert.

Oelhoffen gelingt ein Neuzeit-Western, der Camus' Themen mühelos in sich aufnehmen kann - etwa die Todesnähe, die zur Besinnung auf die elementaren Bedingungen der Existenz zwingt. Illusionen, Ideologien werden abgestreift, nackt soll der Mensch unter der Sonne stehen, bis jedes Freund-Feind-Denken von ihm abgefallen ist - ob das die Gesetze der Blutrache sind, das Machtgehabe der französischen Kolonisatoren oder die Terrorlogik der Aufständischen. Dekonstruktion einer Weltsicht, die immer gute Gründe findet, über Leichen zu gehen.

Einmal geraten Daru und Mohamed in die Gefangenschaft von Rebellen. Da entdeckt Daru unter den Wortführern einen Mann, mit dem er in der französischen Armee gedient hat. Sie umarmen sich, freuen sich über das Wiedersehen, und dann sagt der Mann: "Daru, ich liebe dich wie einen Bruder. Aber wenn ich dich morgen töten muss, weil du auf der falschen Seite stehst, werde ich das tun!"

Das ist die verhängnisvolle Logik, der Camus immer widersprochen hat. Niemals darf die Brüderlichkeit irgendeiner "Sache" geopfert werden. Das war auch Camus' Haltung in der Algerienfrage, die in den Debatten jener Jahre als hübscher, aber politisch indiskutabler Versöhnungstraum postkolonialen Zusammenlebens abgetan wurde. Heute, in Zeiten anschwellender Flüchtlingsströme und Feindseligkeiten, wird die Erinnerung daran, die Oelhoffen packend in Szene setzt, zu einer Herausforderung.

© SZ vom 25.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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