Experiment:Das größte Hörspiel aller Zeiten

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1400 Sprecher, willkürliche Spielereien und knapp achtzig Stunden Laufzeit: ein pompöses Mitmach-Projekt zur Vertonung des Romans "Unendlicher Spaß" des US-amerikanischen Schriftstellers Foster Wallace.

Von Florian Welle

Die Gattung Hörspiel hat in den letzten Jahren eine Neigung zum Superlativ entwickelt. So als gelte das Motto des "Schneller, Höher, Weiter" auch hier. Erinnert sei etwa an die Produktionen von Klaus Buhlert. Seine Vertonung des "Ulysses" kommt auf eine Laufzeit von 21 Stunden. Und 32 Stunden dauert die Hörproduktion nach Raoul Schrotts "Erste Erde".

Vor diesem Hintergrund hat es eine fast zwingende Logik, dass sich jetzt einer der renommiertesten Hörspielmacher des Landes, Andreas Ammer, an den Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace gemacht hat. Schließlich war das Ziel, das "größte Hörspiel aller Zeiten" zu realisieren. So jedenfalls steht es im Booklet, das den insgesamt zehn mp3-CDs beiliegt. Und welcher andere Roman wäre besser für das sportliche Unterfangen des "Größten Hörspiels" geeignet als jener, der die Megalomanie schon im Titel trägt? Ganz davon abgesehen, dass sich bei Wallace ein Großteil der Handlung ja auf dem Tennisplatz abspielt. Es geht ums Gewinnen und Verlieren, um Doping und um Süchte aller Art. "Es ist, als wäre sein hartes, flaches Spiel zum Selbstzweck geworden", heißt es an einer Stelle.

Unendlich ist das 1996 in den USA erschienene Buch über eine gedopte Gesellschaft, die sich zu Tode amüsiert, freilich nicht. Aber mehr als 1500 worttrunkene Seiten inklusive 388 Anmerkungen gaukeln das vor. Zumal es kein befriedigendes Ende im Sinne einer Auflösung der weit verästelten Familien-, Thriller- und Sci-Fi-Story um Hal Incandenza, Don Gately und die Rollstuhl-Terroristen aus Québec gibt, weshalb man am Ende die Lektüre gleich wieder von vorne beginnen möchte. Und schon sitzt man in der rekursiven Schleife fest.

Als das Buch nach mehrjähriger Übersetzungsarbeit von Ulrich Blumenbach 2009 auf Deutsch erschien, redete die Kritik wahlweise von einem "Klotz", einem "Ziegel" oder "Hammer". Bald kam es auch zu öffentlichen Marathon-Lesungen; und der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der Wallace verlegt, rief eine Internetseite ins Leben, auf der man sich 100 Tage lang über die Lektüre austauschen konnte.

Dieses "Unendliche Spiel" mit über 1400 Stimmen und Musikmaschine ist eine willkürliche Spielerei

Daran muss sich Andreas Ammer mit seinen Mitstreitern, den Künstlern und Musikern Andreas Gerth und Acid Pauli alias Martin Gretschmann, erinnert haben, als sie dem Originaltitel noch ihr "Unendliches Spiel" voranstellten und die gesamte WDR-Produktion (mit BR und DLF) nicht als Hörspiel, sondern als "Projekt mit dem Roman" bezeichneten. Alles, was ein professionelles Hörspiel ausmacht, wird hier vermieden: Es gibt kein Manuskript als Grundlage; keinen Regisseur, der denkt und lenkt; und keine Schauspieler als Sprecher. Stattdessen installierte Ammer eine Website, auf der jeder, ob jung oder alt, Mann oder Frau, eine Romanseite lesen und hochladen durfte. Nur die ersten Seiten wurden Profis überlassen, ansonsten hört man nun 79 Stunden lang mehr als 1400 Laien bis zum (bitteren) Ende zu. Der Übersetzer Blumenbach hat mit seiner kräftigen Stimme den Part der Anmerkungen übernommen.

Was im Theater mittlerweile der Bürgerchor ist, ist im Radio der viel umworbene, netzaffine Podcast-Hörer. Und so preist die zuständige Dramaturgin, Christina Hänsel, Ammers Idee als "Schwarmlesung" an. Mit dem Schwarm aber hat es so seine Bewandtnis. Dem Medienkritiker Byung-Chul Han muss man nicht immer zustimmen, hier aber schon, wenn er schreibt: "Der digitale Schwarm ist (...) nicht in sich kohärent. Er äußert sich nicht als eine Stimme."

Der Roman zeichnet sich durch eine Vielzahl an Figuren aus. Dies rechtfertigt jedoch nicht unter dem Deckmäntelchen des ebenfalls im Booklet postulierten "Kontrollverlusts" deren Potenzierung durch Laiensprecher, die mitten im Satz oder Wort abbrechen, um den Staffelstab weiterzureichen, nur weil gerade die Seite zu Ende ist. Figuren, die normalerweise durch die Stimme eines Schauspielers zum Leben erweckt werden, zerfallen hier in Splitter.

Klar, das ist Programm. Trotzdem: Dieses "Unendliche Spiel" ist eine willkürliche Spielerei, die keinerlei Sogwirkung entfaltet, auch gar nicht entfalten kann. Warum das nächste Mal nicht jeden Satz, jedes Wort von einem Laien sprechen lassen? Das wäre echter, wenn auch ästhetisch längst überholter Kontrollverlust und würde immerhin das Risiko minimieren, dass Passagen nicht zu viel, zu wenig oder überhaupt nicht betont werden. Vorwerfen kann man den Beteiligten ihre Fehler kaum, selbst dann nicht, wenn einfach Wörter vergessen werden oder zum Beispiel aus "Besatzung" "Besetzung" und aus "hätte" ein "hatte" wird.

Und so macht einzig und allein die "Goldene Maschine" dieses pompöse Mitmach-Projekt wirklich spannend. Die Musikmaschine, ein analoger Synthesizer aus 57 Modulen, die in der Lage ist, autonom Musik zu generieren, die sich niemals wiederholt, sorgt für eine psychedelische Soundlandschaft, die ihresgleichen sucht. Wie heißt es im Roman: "Um Gottes willen, was sind denn das bloß für ... für Geräusche." Der Rest aber ist sich zum Selbstzweck geworden.

Unendliches Spiel. Unendlicher Spaß . Ein Projekt von Andreas Ammer, Andreas Gerth und Acid Pauli. Mit über 1400 Stimmen. 10 mp3-CDs mit einer Laufzeit von ca. 79 h. Der Hörverlag, München 2017. 49,99 Euro.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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