Europäische Obsessionen:Töpferträume

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In seinem neuen Buch "Die weiße Straße" erzählt der Töpfer Edmund de Waal die Geschichte des Porzellans und wie er selbst von Kindheit an dessen Faszination erlag. Er hat dafür einen Ton gefunden, der den Leser leichthin in ferne Zeiten und bis nach China trägt.

Von Ulrich Rüdenauer

Kaiser Jiajing sandte im Jahre 1554 einen Befehl an die kaiserlichen Brennöfen: "26 350 Schalen mit Drachen in Blau, 30 500 Teller im selben Muster, 6900 Becher, innen weiß und außen blau, verziert mit blauen Blumen, 680 große Fischschüsseln, mit blauen Blumen auf weißem Grund, 9000 Teetassen, weiß, mit gewelltem Rand, 10 200 Schalen, dekoriert mit Lotosblüten, Wasserpflanzen und Fischen in Blau-Weiß an der Außenseite und innen mit durch Blumen wandelnden Drachen und Phönixen, 9800 Teetassen im selben Muster, 600 Becher für Trankopfer mit Untertassen, verziert mit Meereswogen und Drachen in Wolken in Blau."

Die Begierde nach immer neuen Porzellanpreziosen ist unerschöpflich, der Kaiser unersättlich. Die Brennöfen lodern ohne Unterbrechung. Täglich treffen die Boten des Hofes mit den exzentrischsten Aufträgen in Jingdezhen ein, Gesandte aus der verbotenen Stadt, die in der Provinz Jiangxi, gelegen südlich des Jangtsekiang, die ohnehin schon heiß laufende Produktion mit immer neuen Wünschen befeuern. Jingdezhen war eine Stadt voller Manufakturen und Töpfereien, von wo aus Handel mit der halben Welt getrieben und in der über Jahrhunderte hinweg das Geheimnis der Herstellung des "weißen Goldes" gewahrt wurde.

Tausend Jahre ist es her, dass das Porzellan in China erfunden wurde. Seinen Namen bekam es erst viel später, in Venedig, wo auch zum ersten Mal in Europa die Symptome der immer wieder aufflammenden Sucht nach dem reinen Weiß auftraten, nach der Schönheit der Formen, der Eleganz des Materials. Manchen Fürsten hat sie in den Ruin getrieben. Alchimisten an französischen oder sächsischen Höfen haben Jahrzehnte in ihren Laboratorien zugebracht, um dem Geheimnis des Porzellans auf die Spur zu kommen.

Ein junger Mann, so erzählt eine Legende aus dem alten China, soll sich aus Verzweiflung über das Misslingen seiner Porzellangefäße in den Brennofen gestürzt haben. Daraufhin sei das Porzellan "vollkommen und schön" gewesen. Dieser junge Selbstaufopferer erntete großen postumen Ruhm und ist "überall in der Stadt bekannt . . . in vielen Werkstätten hängt sein Bild und blickt von den Regalen herab", erzählt der Jesuit Père d'Entrecolles in seinen Briefen, die in Versailles Kunde gaben von den Kunstwerken und Schätzen aus der chinesischen Provinz.

Drei Jahrhunderte später wird Père d'Entrecolles zum Begleiter Edmund de Waals auf seiner Reise über die "weiße Straße". De Waal, Jahrgang 1964, ist der perfekte Mann für diese Exkursion: Er hat sich in jungen Jahren mit der Porzellankrankheit angesteckt. Der Sohn des Dekans der Kathedrale von Canterbury begann bereits als Kind mit dem Töpfern. Mit 17 Jahren hielt er zum ersten Mal Porzellanerde in Händen. Er hat sich nie wieder dem Bann dieses Materials entziehen können, hat Abertausende Gefäße geschaffen, gilt heute als renommierter Keramikkünstler.

Walther von Tschirnhaus war in den Fußnoten verschwunden. De Waal baut ihm ein Denkmal

Er war schon ein bekannter Töpfer, als er vor einigen Jahren in einer anderen Kunst berühmt wurde. In dem autobiografischen Buch "Der Hase mit den Bernsteinaugen" berichtete er auf berauschende Weise von seiner Herkunft aus der jüdischen Familie Ephrussi, die sich einstmals, was Wohlstand und Bedeutung anbelangt, nicht vor den Rothschilds verstecken musste; und er erzählte davon, wie sich die Erinnerung an diese Vorfahren mit den Dingen aus Porzellan verbindet.

Die Pilgerreise an die heiligen Stätten des Porzellans, die de Waal nun verfasst hat, ist ganz im Präsens geschrieben. Das Material selbst erzählt; betrachtet man es, fasst man es an, erscheint es wie neu, so alt es auch sein mag. "Ich bin in diesem Augenblick und anderswo. Ganz und gar anderswo. Denn die Porzellanmasse ist zugleich Gegenwart und historisches Präsens."

Man darf "Die weiße Straße" nicht als Sachbuch missverstehen, auch wenn man auf jeder Seite etwas lernen kann über die Beschaffenheit des Porzellans und seiner Elemente, es ist auch keine Kulturgeschichte, selbst wenn man sich nach fast 500 Seiten umfassend belehrt fühlt über die Wege und Umwege, die das Porzellan genommen hat, bis es schließlich in Europa ankam, über Johann Friedrich Böttger in Meißen, den Quäker William Cookworthy in Plymouth, den Geburtshelfer des englischen Porzellans, oder über Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, dem de Waal ein Denkmal setzt, während er in den offiziellen Geschichtsbüchern in den Fußnoten verschwunden ist.

Edmund de Waal schweigt nicht von den unmenschlichen Bedingungen, unter denen die wertvollen Objekte produziert wurden; er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um den bourgeoisen Kitsch geht, der vor allem im 19. Jahrhundert hergestellt wurde. Und er spricht von den Gefahren der Sehnsucht nach der Reinheit des Weiß, von ihrer Wendung ins Totalitäre. Die Julleuchter, die SS-Mitgliedern zu besonderen Anlässen zum Geschenk gemacht wurden, stammten aus einer Fabrik in Allach, die 1940 ins Konzentrationslager Dachau verlegt wurde.

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All das erfahren wir aus diesem Buch. Aber wie gesagt, ein Sachbuch ist es nicht, eher eine "Wallfahrt zu den Anfängen" - und eine Erkundung der eigenen Passion. "Ich habe vor, drei Orte aufzusuchen, wo das Porzellan erfunden oder wiedererfunden wurde, drei weiße Berge in China und Deutschland und England. Jeder von ihnen ist mir wichtig. Seit Jahrzehnten kenne ich sie durch ihre Keramik, durch Bücher und Geschichten, aber ich war nie dort. Ich muss an diese Orte fahren, muss sehen, wie Porzellan unter anderen Himmeln aussieht, wie Weiß sich mit dem Wetter verändert. Weiß sind auch andere Dinge auf dieser Welt, aber für mich kommt Porzellan an erster Stelle."

Begeisterten Menschen folgt man selbst in die entlegensten Gegenden ihrer Leidenschaft. So ergeht es einem mit diesem Buch. Nicht der geringste Grund dafür ist de Waals Sprache (und damit sei ausdrücklich seine Übersetzerin Brigitte Hilzensauer hervorgehoben): Er umschmeichelt mit ihr Formen und Gefäße, verschmilzt Vergangenheit und Gegenwart, überwindet enorme räumliche und zeitliche Distanzen. De Waal hat als Künstler Sinn für die Schönheit des Handwerks - und die seltene Fähigkeit, uns daran teilhaben zu lassen. Nicht zuletzt gelingt es ihm, seine eigene Biografie, die das Buch überhaupt erst motiviert, einzublenden - dezente Rückgriffe auf ein früheres Ich, den jungen Mann, der davon träumte, die perfekte Vase zu brennen, in einem Weiß, das dem des chinesischen Porzellans nahekommt. Verführt durch den sehr eigenen, literarischen Ton, folgen wir de Waal auf seiner Reise zu den "weißen Bergen", folgen den erzählerischen Abschweifungen.

Auf einem chinesischen Markt kauft de Waal sieben auf alt getrimmte Teeschalen aus der T'ang-Dynastie, fünf Dollar das Stück, notdürftig in Zeitungspapier eingewickelt, klackern sie in einem Plastikbeutel gegeneinander. "Das Ineinandergreifen der Geschichten macht es so schwierig, herauszufinden, welche Zeitform ich verwenden soll; die Vergangenheit ist hier nicht besonders vergangen, und die Gegenwart, die in meinem Beutel aneinanderschlägt, sehr, sehr alt. Zeitformen sind flüssig und schwer zu kontrollieren. Und es gibt so viele Geschichten, dass ein Album die einzige Möglichkeit scheint, sie zu sammeln, eine Art Plastikbeutel, in dem sie zufällig zusammenstoßen."

Dieses Buch ist ein Album, in dem Geschichten aus allen Zeiten aneinanderklirren

Dieses Buch ist ein solches Album, in dem Anekdoten aus allen Zeiten aneinanderklirren, sich bedingen oder anstoßen - Geschichten vom Porzellanpavillon der Geliebten des Sonnenkönigs, von der weißen Erde der Cherokee-Indianer, vom revolutionären Gestus der Bauhäusler oder vom Ehrgeiz eines jungen Mannes, den der Staub der Töpferwerkstatt im Hals kitzelt und der an der Töpferscheibe noch unbeholfen seine ersten Gefäße formt.

"Die weiße Straße" ist nicht nur eine Pilgerreise, sondern auch eine Art Opfergabe an die eigenen Lehrer und all die Vorgänger, die in diesem Buch zu Zeitgenossen werden. Bleibt die Frage: Muss man das alles so genau wissen? Ja, man muss. Nicht, weil man jedes Detail behalten muss; sondern weil es um die Form des Erzählens dieser Details mindestens ebenso sehr geht wie um das Erzählte.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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