Europa:Licht aus

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Warum gründet der dänische Nationalstolz auf einer Demütigung? Gedenkfeier zur Schlacht bei den Düppeler Schanzen, in der 1864 preußische und österreichische Truppen siegten. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Skandinavien wollte mal hell, friedlich, freizügig sein. Doch jetzt gewinnt der Nationalismus. Zu Besuch bei der Bürgerwehr im deutsch-dänischen Grenzgebiet.

Von Thomas Steinfeld

Leer ist die Landschaft. Schwarz-weiß gefleckte Kühe stehen auf großen Wiesen herum, der Wind veranstaltet Lichtspiele auf grünen Getreidefeldern, in den kleinen Wäldern dazwischen leben Füchse und Rehe. Aber man sieht sie nicht. Deutlicher zu erkennen sind hingegen die mobilen Grenzposten, die seit Kurzem nicht mehr nur von der dänischen Polizei, sondern auch von den patriotischen Bürgern des "hjemmeværn", der Bürgerwehr, besetzt werden. In gelben Leuchtjacken stehen sie auf Straßen, die mitten durch offenes Gelände führen und jetzt an bestimmten Stellen durch Fahrzeuge eines Einsatzkommandos verengt werden. Hinter den Patrioten sind Halogenleuchten auf Stativen befestigt. Die Kontrolleure schauen in jedes Fahrzeug und urteilen nach Gesamteindruck. Hellhäutige werden durchgewunken, Dunklere müssen zumindest die Papiere vorweisen.

Dass die nebenberuflichen Soldaten von der Bürgerwehr auf der Straße stehen, ist die Folge eines Kompromisses. Denn die radikalen Nationalisten von der Dänischen Volkspartei hatten nach der Armee gerufen, nachdem die Polizei, der Grenzkontrollen wegen, so viele Überstunden angehäuft hatte, dass die innere Sicherheit gefährdet erschien. Eine Entscheidung, die Kriegsmacht dort aufzustellen, wo bislang das einige Europa des freien Verkehrs für Waren und Menschen herrschte, kam den anderen Parteien aber zu martialisch vor. Das gilt umso mehr, als sich die Kontrollen auf die größeren Straßen beschränken und man auf den Feldwegen, die über eine physisch nicht existierende Grenze führen, zwar Hasen begegnet, nicht aber Polizisten. Und es gilt noch mehr, weil nun schon seit Monaten kaum noch Flüchtlinge an diese Grenze kommen. Längst stehen die Eichen in sattem Grün. Dass sich mit der beginnenden warmen Jahreszeit die Flüchtlinge wieder in großer Zahl nach Norden in Bewegung setzen würden, ist indessen auch zwischen Schleswig-Holstein und Jütland nicht zu bemerken.

Modernes Skandinavien? Die Populisten bevorzugen einen völkischen Bund echter Dänen

Der Ruf nach dem Militär verdankt sich einem politischen Kalkül. Denn wo die Armee eingesetzt werden muss, da herrscht der nationale Notstand. Dieser bemisst sich nicht daran, wie viele unerwünschte Menschen tatsächlich die Grenze überqueren wollen und was sie danach vorhaben, sondern an einer Idee, der Nation drohe unmittelbar Gefahr. Eine solche Vorstellung unterliegt einem Ermessen, in dem der Grad der Gefährdung sich daraus ergibt, was man sich unter einer Nation vorstellt: einen völkischen Zusammenschluss echter Dänen, lautet die Antwort der Volkspartei. Sie ist die zweitstärkste politische Kraft des Landes, und ihren Chauvinismus machten sich vor allem die Sozialdemokraten zu eigen. "Schärfere Asylbestimmungen und härtere Auflagen für Einwanderer" hatte die ehemalige Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt verlangt, als sie im vergangenen Jahr in den Wahlkampf zog. Danach musste sie abtreten, aber nicht etwa, weil sie es an Ausländerfeindlichkeit hätte fehlen lassen: Die Dänische Volkspartei errang bei dieser Wahl den größten Erfolg ihrer Geschichte.

Ein bewegliches Gebilde ist die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland - oder genauer: zwischen dem Königreich und ein paar der vielen deutschen Staaten - über Jahrhunderte gewesen. Im 18. Jahrhundert verlief sie bei Hamburg, nach dem Sieg Preußens und Österreichs über Dänemark im Jahr 1864 lag sie mehr als zweihundert Kilometer weiter nördlich, bei Kolding am Kleinen Belt. Geblieben sind von solchen Wechselfällen der Geschichte die Minoritäten: eine deutsche Minderheit in Dänemark, eine dänische in Deutschland.

Zu ihnen gehören gegenwärtig jeweils nur ein paar Zehntausend Menschen. Doch werden diese Minderheiten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gepflegt. Sie sollten nicht nur Ausdruck eines neuen, friedlichen Nebeneinanders der Nationen sein, sondern mehr als das: Vorgriff auf ein neues Europa, in dem Grenzen nur noch Koordinaten eines neuen Miteinanders sein sollten. Dieses Ideal galt besonders für das Verhältnis zu Dänemark, weil die skandinavischen Länder die Freizügigkeit im Umgang der Staaten miteinander schon Jahrzehnte vor dem Abkommen von Schengen praktiziert zu haben schienen.

So kommt es, dass der "Südschleswiger Wählerverband" (SSW), die Partei der dänischen Minderheit in Deutschland, von sich sagt, er orientiere sich politisch "eng an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Skandinavien". An den Einsatz des Militärs an der Grenze dachte der Verband offenbar ebenso wenig wie an die praktische Verweigerung des Rechts auf Asyl, wie sie mittlerweile alle nordischen Staaten betreiben - umso mehr aber dachte man an den friedlichen, toleranten, naturverbundenen Norden, der auch ein Land deutscher Träume war und ist. Man habe der dänischen Seite die Bedenken "deutlich gemacht", sagt Anke Spoorendonk, die in der Koalition des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Torsten Albig, die gegenwärtig in Schleswig-Holstein regiert, Ministerin für Justiz, Kultur und Europa ist und dem SSW angehört.

Im Treppenhaus des Ministeriums hängen zwei Schilder: "Refugees welcome" und "Nazifreie Zone" steht darauf. Wenn Anke Spoorendonk ihr politisches Programm erläutert, kehren folglich lauter Ideale wieder, für die der Norden gestanden hat, bevor der Rechtspopulismus dort mächtig wurde: soziale Absicherung durch Steuern, kollektive Entscheidungen, flache Hierarchien. Der SSW bildet eine Fraktion im Kieler Landtag, auch wenn er bei Wahlen nicht entfernt die fünf Prozent der Wählerstimmen erreicht, die eigentlich für einen Einzug ins Parlament notwendig wären. Er repräsentiert eine politisch geschützte Minderheit. Es gehört nicht viel Fantasie zu der Feststellung, dass die Stellvertretung einer verlorenen freundlichen Welt, politisch betrachtet, kein aussichtsreiches Projekt sein kann.

Dreißig Kilometer von Flensburg entfernt, bei Sønderborg (Sonderburg), nicht weit vom nordöstlichen Ufer der Flensburger Förde, stehen ein paar grasbewachsene Hügel. Sie bilden, zusammen mit einer wiederaufgebauten Mühle und einem kleinen Museum, das wichtigste Denkmal der dänischen Nation: die Düppeler Schanzen. Die Schlacht, die hier im April 1864 ausgetragen wurde und, nach wochenlangem Kanonenbeschuss, nur ein paar Stunden dauerte, verwandelte Dänemark in ein kleines Land an der europäischen Peripherie, während sie auf der anderen Seite zum ersten großen Sieg in Bismarcks Einigungskriegen wurde. Zur Niederlage gehört, dass Dänemark den Kampf zweimal verlor: das eine Mal, weil es den militärisch überlegenen Preußen und Österreichern unterlag, und das zweite Mal, weil König und Parlament in Kopenhagen selbst dann auf Dänemark als einer großen Nation beharrten, als das Militär längst nur noch den Rückzug wollte - woraufhin die Niederlage um so gründlicher ausfiel.

Die Erstürmung der Düppeler Schanzen sei Dänemarks "dommedag" gewesen, der "Jüngste Tag", sagt eine Stimme aus dem Off, wenn im Museum die animierte Rekonstruktion der Schlacht beginnt. Der Film erinnert an Zack Snyders "300" und wurde für das Jubiläum der Schlacht vor zwei Jahren geschaffen. Es wurde als Fest der nationalen Einheit begangen, mitsamt Königin und Wiederaufführung der Erstürmung durch Laienschauspieler, jedoch ohne den deutschen Bundespräsidenten.

Zwei Fragen stellen sich beim Besuch des Museums. Die eine lautet: In welchem Jenseits meint sich die Nation seit dem "Jüngsten Tag" zu befinden? Die andere: Wie kommt es, dass sich das Nationalbewusstsein auf eine Niederlage gründet - und Stolz auf Demütigung? Die Antwort kann nur lauten, dass im Verlust auch eine Art Befreiung liegen soll: nicht nur von den deutschsprachigen Landesteilen, sondern auch von allem Nicht-Dänischen, was immer das jeweils sein könnte. Es dürfe keine "versöhnliche Haltung" gegenüber dem Deutschen und dem Deutschtum auch innerhalb Dänemarks mehr geben, erklärte damals der Pfarrer und Nationalphilosoph N. F. S. Grundtvig, wohl wissend, wie eng die Verbindungen etwa durch die lutherische Kirche waren.

Die am meisten von der EU profitiert haben, benehmen sich nun besonders antieuropäisch

Neulich, sagt Torge Korff, der Leiter des Flensburger Kulturbüros, habe in der Grenzregion ein Festival stattgefunden, bei dem der in Dänemark populäre Schriftsteller, Sänger und Gitarrist Kristian Leth das Lied von den erlöschenden Lichtern vortrug: "Når lysene går ud." Es ist das Lied eines enttäuschten Dänen, der sein Land jetzt so furchtbar findet, dass er seine Stimmzettel zerreißen möchte. Beim Konzert, erzählt Torge Korff, hätten Anke Spoorendonk und Ellen Trane Nørby, die gleich jenseits der Grenze lebende dänische Ministerin für Kinder, Unterricht und Gleichstellung, im Publikum gesessen. Sie werden die Klagen zumindest kennen, was für eine hässliche Nation Dänemark in jüngster Zeit geworden sei - bis hin zum Erschrecken über die Entscheidung, ankommenden Flüchtlingen das Bargeld und die Wertsachen abzunehmen, damit sie sich an den Kosten ihres Aufenthalts im Land beteiligen. Dass diese Verfügung bis heute nicht durchgesetzt wird (oder dass es ähnliche Regelungen auch anderswo gibt), spielt dabei keine Rolle. Denn die Niedertracht ist gewollt. Sie gehorcht derselben Absicht wie die Einberufung der Bürgerwehr.

Dass jemand ein Nationalist sei, galt in Dänemark schon vor den jüngsten Krisen kaum als Vorbehalt oder gar Kritik, auch nicht unter den Voraussetzungen der Europäischen Union. Im Gegenteil: Das Prinzip der Union, dass nämlich die Gemeinschaft allen Mitgliedern dazu taugen soll, nationalen Nutzen zu schaffen und zu mehren, wurde in diesem kleinen Land nicht als der Widerspruch verstanden, der er ist. Und wenn Dänemark, nach den Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung (2014), das Land der EU ist, das bisher mehr als jedes andere Land von der Gemeinschaft profitierte, und zwar mit deutlichem Abstand vor den anderen (mit Ausnahme von Deutschland), so fanden dänische Nationalisten einen solchen Ertrag nur recht und billig. Seit es mit dieser Staatsräson ein Ende hat und sich der Nutzen, falls überhaupt, nur noch bedingt einstellt, wurde Europa zu einer Instanz, die nun beinahe täglich daraufhin geprüft wird, ob sie sich dänischen Interessen noch fügt.

Zugleich aber verbirgt sich im Verhältnis vieler Dänen zu Europa ein sozialer und ökonomischer Gegensatz. Denn nirgendwo in Dänemark ist die Zustimmung zur Volkspartei (und damit die Gegnerschaft zu Europa) so groß wie im ebenso ländlichen wie armen Süden Jütlands, also unmittelbar jenseits der deutschen Grenze. Es ist beinahe wie im Frühjahr 1864: Man glaubt sich von zwei Seiten angegriffen, niedergemacht von der Großmacht im Süden, verraten von Kopenhagen.

Deswegen traten in einem frühen Wahlspot der Dänischen Volkspartei ein paar Holsteiner Kühe zwischen den alten Kanonen der Düppeler Schanzen auf. Und erst vor ein paar Wochen musste der dänische Kulturminister vor dem entsprechenden Ausschuss des Parlaments erklären, ob er die zum Jubiläum angefertigte Fernsehserie "1864" (sie war auf Deutsch im vergangenen Sommer auf Arte zu sehen) für eine Attacke auf die Volkspartei halte: In der teuersten Produktion, die sich das dänische Fernsehen je geleistet hat, ist nämlich davon die Rede, dass Dänemark den Angriff der Preußen und Österreicher mit dem Versuch provoziert habe, die Staatsgrenze nach Süden, an die Eider, zu verlegen.

Leer ist die Landschaft. Kühe stehen darin herum. Eine Grenze führt trotzdem hindurch. Und wenn man sie auch nicht sieht, so wird sie in der nächsten Zukunft doch immer wichtiger werden: Denn Deutschland hat, in Gestalt der Kanzlerin, eine "Europäisierung der Flüchtlingspolitik" angekündigt. Und dieses Programm kann man drehen und wenden, wie man will: Immer kommt ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Außengrenzen der europäischen Union und ihren inneren Grenzen dabei heraus - und damit eine Einschränkung der jeweiligen nationalstaatlichen Souveränität.

Die Flüchtlinge sind (auch und gerade, wenn sie erst einmal nicht mehr kommen, und auch und gerade, weil sie rechtlose Wesen sind) dabei nur der Fall, an dem sich Prinzipielles zu erweisen hat. Und weil das so ist, meinen es Länder wie Dänemark mit ihrer Souveränität nunmehr so brutal ernst. Deswegen steht jetzt die freiwillige Bürgerwehr auf der Straße, und deswegen gibt es Lieder, die von erlöschenden Lichtern handeln.

© SZ vom 20.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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