Eurodance in den US-Charts:Wumms, wumms, wumms

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Der unbedingte Wille zur Kirmestauglichkeit: Der Eurodance hat Amerika fest im Griff. Man könnte nun eine Geschmacksverirrung vermuten - oder es ist mal wieder das Internet schuld.

Jan Kedves

Das Tempo im amerikanischen Rap- und R&B-Geschäft hat auf 120 beats per minute angezogen, über dicken Basskicks zucken Trance-Arpeggien und dramatische Snarewirbel, die Songs klingen, als seien sie dazu gedacht, in einer Neonlaser-Disco durch in der Lunge kratzenden Trockeneisnebel zu wummern. In den letzten Monaten wurden die Top-Ten der amerikanischen Charts von vollplastischen Tanznummern dominiert, "Dynamite" von Taio Cruz oder "DJ Got Us Fallin' In Love" von Usher sind nur die jüngsten Beispiele. Auch Künstler wie Ne-Yo oder Flo Rida schwärmen von hochenergetischen Techno-Sounds.

Die "Black Eyed Peas" sind auf den Trend des Eurodances aufgesprungen und feiern damit große Erfolge - nicht nur in den USA. Aber warum nur? (Foto: Getty Images)

Kurz: Eurodance hat Amerika fest im Griff. Soviel Viervierteltakt-Wumms herrschte in den USA nicht mehr, seit die kommerzielle Hochphase von Disco ihr Ende fand, als der Radio-Discjockey und Rock-Apologet Steve Dahl im Juli 1979 zur "Disco Demolition Night" aufrief und im alten Chicagoer Baseballstadion Comiskey Park zigtausende Disco-LPs vor jubelndem Publikum in die Luft sprengte.

Man könnte die Begeisterung Amerikas für europäische Clubsounds nun als Geschmacksverirrung bezeichnen, oder - wie Will.i.am, der Kopf der Gruppe Black Eyed Peas, die bei dem Trend kräftig mitmischt - mutmaßen, es liege alles am Internet: Früher, so Will.i.am, hätten die Amerikaner, die bis heute nur selten zu touristischen Zwecken ihr Land verlassen, nicht mitbekommen, was musikalisch außerhalb ihrer Heimat passiert; seit YouTube entdeckten sie nun ihnen bislang verborgen gebliebene europäische Pop-Phänomene wie Captain Hollywood oder Captain Jack.

Diese Erklärung klingt einleuchtend, vergisst aber, dass der Drang zur ständigen Neuerung in den Genres Hip-Hop und R&B - die in den USA unter dem Begriff "Urban" zusammengefasst werden - nicht erst mit der Digitalisierung einsetzte: In den neunziger Jahren waren Samples von alten Blue-Note-Alben beliebt, diese wurden bald durch Zitate aus Bollywood-Soundtracks ersetzt, und danach folgte eine Konjunktur puertoricanischen Reggaetons. Jetzt also ist der Eurodance-Sound dran. Dass er dabei eine logische Ergänzung zu den in den letzten Jahren grassierenden synthetischen Auto-Tune-Stimmeffekten darstellt, mag fast Zufall sein.

In europäischen Ohren klingen die jüngsten amerikanischen Charthits nach einem seltsamen Retro-Phänomen, man erinnert sich noch zu gut an die frühen neunziger Jahre und ihre popmusikalischen Unglücksfälle. Eurodance, häufig auch Eurotrash genannt, war damals eine Musik, in der sich die Begeisterung für die Ästhetik von House und Techno mit dreist eingängigen Pop-Refrains und einem unbedingten Willen zur Kirmestauglichkeit verband.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wo in Deutschland das Epizentrum des Eurodance-Sounds liegt.

Ein Sound, dessen Epizentrum in Frankfurt am Main lag, genauer: in der Großraumdisco Dorian Gray im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens. Hier probten ab 1990, bevor sich das Plattenmischen landesweit zu einem eigenständigen Karrieremodell emanzipierte, DJs wie Torsten Fenslau oder Mark Spoon die Zusammenarbeit mit Songwritern und gecasteten Soulsängerinnen - als wollten sie beweisen, dass auch sie richtige Musiker sind. So entstand ein seltsamer Zwitter zwischen DJ-Kultur und Pop: Das, was Techno kurz zuvor so konsequent eingeführt hatte - nämlich Strophen und Refrains durch Monotonie, Repetition und modulierte Loops zu ersetzen - wurde zugunsten konventionellen Songwritings schon wieder über Bord geworfen. Die Hits hießen "Mr. Vain", "Right in the Night" oder "Got to Get It".

Reime zum Abgewöhnen

Nicht zuletzt erinnert man sich an Eurodance aber auch als das Genre, in dem meist sehr schlecht gerappt wurde. Ernsthafte Rapper - oder zumindest diejenigen, denen an ihrem Ruf gelegen war - lehnten es damals strikt ab, zu Techno-Beats zu rappen. Die Eurodance-Produzenten aber wollten unbedingt eine Prise Amerika in ihren Produktionen und waren so gezwungen, mit der B- und C-Klasse des Geschäfts zu arbeiten. Als legendär in dieser Hinsicht gilt "Rhythm Is A Dancer", der Snap!-Hit aus dem Jahr 1992: In ihm reimte der aus Pittsburgh stammende, in Frankfurt gestrandete Ex-GI Durron Maurice Butler alias Turbo B: "I'm serious as cancer / When I say rhythm is a dancer".

Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Die großen Stars des Hip-Hop-Geschäfts reimen inzwischen freiwillig zu Eurodance, während ihre weniger erfolgreichen Kollegen immer noch zu jenem Sound rappen, den man 20 Jahre lang als Hip-Hop zu identifizieren gelernt hat - betont schluffige Downbeats, zu denen sich schlecht tanzen lässt, weil einem die Baggy-Hose sonst über den Hintern rutscht.

Der vorläufige Höhepunkt des Paradigmenwechsels war vor einigen Wochen das Stück "No Love" auf Eminems neuem Album "Recovery", in ihm sind großzügig Samples aus Haddaways Eurodance-Hit "What Is Love" zu hören. Kurz darauf folgte "One (Your Name)", eine Single (Virgin / EMI) des Projekts Swedish House Mafia: drei aus Schweden stammende DJs, die für ihren Mix aus hysterischen Synthiegeigen und plärrenden Computerspielsounds keinen geringeren Gast-Rapper gewinnen konnten als Pharrell Williams.

Williams galt vor zehn Jahren neben Timbaland als Meister minimalistisch skelettierter und trickreich synkopierter Hip-Hop-Beats. Er rappte nicht nur, sondern produzierte im Team mit Chad Hugo unter dem Namen The Neptunes auch die Sängerin Kelis, die mit ihrem ersten Album "Kaleidoscope" ihren sehr verdienten Durchbruch als R&B-Rebellin feierte. Inzwischen singt Kelis lieber zu stampfenden Produktionen von David Guetta, einem 42-jährigen französischen DJ, der - nach Timbaland und den Neptunes - als neuer Star-Produzent der Black Music gilt.

David Guetta hat bereits Nummer-1-Hits für die Black Eyed Peas produziert, sein Erfolgsrezept ist so einfach wie effektiv: Er kombiniert die gesammelte Prallheit des Eurodance-Sounds mit Songs, die er sich von versierten Hitschreibern anliefern lässt. Er kopiert also in gewisser Weise das Modell, das Anfang der Neunziger im Frankfurter Dorian Gray erprobt wurde. Damals war es der aus Darmstadt stammende Jürgen "Nosie" Katzmann, der die deutsche Eurodance-Liga quasi im Alleingang mit Hits belieferte. Katzmann, eigentlich Liebhaber des Folk, komponierte für Culture Beat, Jam & Spoon und Captain Hollywood, später auch für DJ Bobo und Scooter. Katzmanns Songs verlieren nichts von ihrer Eingängigkeit, wenn sie - wie auf seiner im vergangenen Jahr erschienenen "Greatest Hits 1"-Compilation (GIM Records) - einmal ohne Techno-Beats im einfachen Folkpop-Gewand eingespielt werden.

Erfahren Sie auf der nächsten Seite mehr über die "Nummer-Sicher-Hit"-Formel.

Im Booklet des Albums spricht Katzmann von der "Nummer-Sicher-Hit"-Formel, mit der er damals all die "simplen Hopp-in-den-Kopp- und Auf-die-Zwölf-Choruse" aus dem Ärmel geschüttelt habe. Irgendwann sei ihm das aber zu einfach geworden, er habe auch mal experimentieren wollen. Prompt hätten seine Abnehmer "Hit-Bedenken" geäußert: Könnte denn ein nicht vordergründig eingängiger Song, bei dem sich der Chorus wie eine Strophe anhört, überhaupt die Charts stürmen?

Eine Frage, die sich auch heute noch stellt. Nicht umsonst betont der zuletzt vom Erfolg nicht mehr ganz so verwöhnte Pharrell Williams im Zuge seiner Kooperation mit der Swedish House Mafia, er habe einfach mal einen Dance-Track machen wollen - sprich: Das Ganze sei nicht gleich kommerziell gedacht gewesen, man habe sich einfach erlauben wollen, mal ein bisschen herumzuspielen. "One (Your Name)" hat eine Strophe als Refrain, ist also mehr Track als Song - für amerikanische Urban-Verhältnisse ist das fast avantgardistisch.

Hier zeigt sich also die ganze Paradoxie der amerikanischen Eurodance-Mode: Während mit dem Erfolg von David Guetta und seinen Club-Produktionen der DJ als Künstlerfigur in den amerikanischen Charts mit beinahe 20 Jahren Verspätung angekommen ist, herrschen, was Techno und dessen emanzipierte Track-Ästhetik angeht, noch immer Verständnisprobleme. Tatsächlich ist "One (Your Name)" trotz des Beitrags von Williams in den Charts bislang ein Flop - während sich Nosie Katzmann, wenn der Trend weiter anhält, schon auf eine Welle frisch urbanisierter Coverversionen seiner alten Frankfurter Flughafen-Hits freuen darf. Kelly Rowland und Rihanna haben bereits weitere Kooperationen mit David Guetta angekündigt. Nicht ausgeschlossen, dass auch bei Katzmann wieder die Telefone klingeln.

© SZ vom 16.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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