Essayistik:Nach Babylon

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Stefan Weidner: Fluchthelferin Poesie. Friedrich Rückert und der Orient. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 64 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro. (Foto: Wallstein Verlag)

Der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner stellt der aktuellen Fluchtbewegung in einen verklärten Westen die innere Flucht der Deutschen vor sich selbst in einen poetischen Orient gegenüber.

Von Lothar Müller

Die klassisch-romantische Literatur der Deutschen hätte zu sich selbst nicht finden können ohne den Zustrom aus fremder Poesie und Prosa, den sie durch ihre zahllosen Übersetzungsprojekte in die deutsche Sprache einfließen ließ. Das war schon den Zeitgenossen selbst bewusst, und manche von ihnen krönten ihre Übersetzungspraxis mit der Theorie, in der deutschen Sprache und nur in ihr allein lassen sich ein Ahnung der verloren gegangenen Sprache des Paradieses wiederfinden.

Der Dichter Friedrich Rückert, dessen 150. Todestag im vergangenen Jahr in Schweinfurt, Erlangen und Coburg mit der Ausstellung "Der Weltpoet" begangen wurde, stand der Auffassung des Deutschen als der idealen post-babylonischen Sprache, die alle anderen in sich aufnehmen kann, nicht fern. Der Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat seine im April 2016 zur Eröffnung der Ausstellung gehaltene Festrede zu einem Essay über die historische Konstellation von Rückerts Übersetzungen aus der persischen und arabischen Literatur ausgebaut.

Rückert, der als poetischer Herold des Orients berühmt wurde, ist nie im Orient gewesen. Mit den realen Orientbewohnern seiner Zeit hätte er sich nicht unterhalten können. Seine Vielsprachigkeit und seine Übertragungen des Koran, der altarabischen Heldenlieder oder des mittelalterlichen persischen "Königsbuchs" deutet Weidner als Fluchtbewegung im eigenen Land, das hinter den geistigen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution zurückbleibt. Und er stellt dieser historischen Flucht in den poetischen Orient die aktuellen Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten in einen verklärten Westen gegenüber. Hier wie dort muss die Verklärung in Desillusionierung übergehen.

Aus der Konkursmasse des Orientalismus will Weidner ein Element nicht ohne Grund retten: die Vision einer idealen Sprache der Übersetzung, die sich damals an das Deutsche knüpfte. Denn Übersetzung ist in diesem Essay ein anderes Wort für Gastfreundschaft.

© SZ vom 18.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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