Essayistik:Eine Erwartung von Sinn

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In der vergangenen Woche starb der englische Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker John Berger. Der Band "Der Augenblick der Fotografie" versammelt erstmals seine Aufsätze zur Fotografie.

Von Nico Bleutge

Es ist alles eine Frage der Zeit. Im richtigen Moment auf den Auslöser drücken. Für den Fotografen Henri Cartier-Bresson hat dieser entscheidende Augenblick geradezu mystische Qualität. Keine Berechnung, kein Bedenken helfen weiter, eher eine Art von Gespür, eine "Überwachheit" aller Sinne, um im Bruchteil einer Sekunde etwas zu erkennen und den Finger zu senken. Es ist der Augenblick eines Ganzen, die Fähigkeit, Übereinstimmungen wahrzunehmen, den "Blick auf eine Ordnung zu erhaschen, die allem zugrunde liegt".

Der Schriftsteller John Berger, der in der vergangenen Woche gestorben ist ( SZ vom 4. Januar), hat dieser geheimen Ordnung der Fotografie lange nachgeforscht. Ein Sammelband mit seinen Essays, Skizzen und Porträts erlaubt es, einen Blick auf Bergers eigene Ordnungen zu erhaschen. Die Stücke zeigen, mit welch feinem Gespür er Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Dingen wahrnahm. Etwa zwischen einem Foto und einem Gemälde. Die Malerei, so Berger, übersetzt reale oder vorgestellte Dinge in ein Gefüge aus Zeichen. Ein Foto indessen bezieht sich immer auf Reste von Geschehenem, auf Erscheinungen. Genauer: Es besitzt keine eigene Sprache, sondern es zitiert lediglich Erscheinungen.

John Berger: Der Augenblick der Fotografie. Essays. Herausgegeben von Geoff Dyer. Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes und anderen. Carl Hanser Verlag, München 2016. 272 Seiten, 22 Euro. (Foto: Verlag)

John Berger war auch Maler. Zuletzt hatte er in "Bentos Skizzenbuch" (2011) Zeichnungen und Texte zusammengebracht und über das Schreiben nachgedacht: "Wenn wir einer Geschichte folgen, bleiben wir dem Erzähler auf der Spur, oder besser, wir folgen seinem Augenmerk - dem, was seine Aufmerksamkeit entdeckt, worauf sie verweilt, was sie übersieht oder wiederholt". Das liest sich wie ein kleines Selbstporträt. Berger war ein leidenschaftlicher Augenmensch, der einem Phänomen nachging, es analysierte und deutete, um kurz darauf zu einer anderen Erscheinung zu hüpfen.

Dennoch gibt es so etwas wie grundsätzliche Ideen, die seine Schriften zur Fotografie durchziehen. Berger dachte das Leben als ein stets bewegliches Gefüge aus Erfahrung. Die Erscheinungen haben für ihn die Qualität von Offenbarungen, wobei er Offenbarung in einem nicht-religiösen Sinn verstand: Etwas tritt uns als bedeutungsvolles Ganzes entgegen. Das Foto schneidet ein Bild aus dieser Bewegung der Zeit, entnimmt es seinem Zusammenhang. Es friert den Augenblick ein und macht ihn auf diese Weise vieldeutig.

Eine gute Fotografie nutzt diese Vieldeutigkeit. Sie wird ausdrucksstark dadurch, dass sie den Offenbarungscharakter der Erscheinungen verstärkt, gleichsam quer durch sie hindurchliest und eine Idee aufscheinen lässt. Freilich, das betont Berger ein ums andere Mal, kann jedes Foto für die unterschiedlichsten Zwecke gebraucht oder gar instrumentalisiert werden. Nicht von ungefähr setzte er sich in einem Essay mit den Möglichkeiten der Fotomontage auseinander. Anderen Texten senkte er seine eigene Deutung der historischen und politischen Entwicklungen ein. Das beginnt bei Stücken, die sich kritisch mit dem Vietnamkrieg beschäftigen, und endet bei sehr klugen Gedanken zum Wesen der Revolution. Fotos lassen sich für Berger auch als Einspruch gegen eine übermächtige Vorstellung von Geschichte denken. Sie halten die Erinnerung an Momente der Zeitlosigkeit oder des Traums wach, können zudem den Toten Respekt zollen.

Tatsächlich ist dieser Band vor allem ein Buch über das Sehen und die Erinnerung. Nicht nur, weil Berger seine Gedanken immer aus der Anschauung heraus entwickelt. Er betrachtet Fotografien und taucht in das Leben großer Fotografen ein, es mag sich um André Kertész handeln oder um Martine Franck. Wenn er über das Sehen nachdenkt, stützt er sich auf seine Erfahrungen, liest aber auch nach, was die moderne Naturwissenschaft über die Wahrnehmung herausgefunden hat und knüpft daran seine Deutungen. Wer die Welt auf das Messbare begrenzt, der zielt am Rätsel des Sehens vorbei: "In jedem Akt des Sehens liegt die Erwartung von Sinn." Was nicht bedeutet, es müsste auch jedes Mal ein Sinnganzes zu entdecken sein. Berger ging es vielmehr um eine grundsätzliche Offenheit des Wahrnehmens.

Und die Erinnerung? Zwar arbeitet die Fotografie einfacher als die Erinnerung, für Berger aber gab es kein Ausdrucksmittel, das ihr näher sein könnte. Beide stellen sich dem Vergehen der Zeit entgegen, beide sammeln Bilder des Moments und sorgen für Gleichzeitigkeit. Was Bergers Essays an solchen Stellen vermissen lassen, ist ein Bewusstsein für die Brüchigkeit von Erinnerungen. Sind es nicht oft nur Splitter, die in jedem Erinnerungsvorgang zudem neu zugeschliffen werden? Dafür hat sein Festhalten an der Idee des Sinns bisweilen etwas fast Tröstliches. Ein unverwüstlicher Glaube an eine "alternative Zukunft" ist den Texten eingeschrieben. Und auch wenn offen bleibt, wie genau diese Zukunft aussehen könnte, gewiss hat sie etwas mit einem Gespür für entscheidende Augenblicke zu tun.

© SZ vom 09.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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