Essay:Ein Lied auf die Empfängnis neuer Helden

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"Stadt der Frauen" aus Sicht des Mannes: Wie Orpheus zur Blaupause für Politiker wurde.

Von Klaus Theweleit

Der Orpheus der Moderne beginnt - dreigestaltig - 1607: Musikalisch in Mantua am Hof der Fürsten Gonzaga; "zivilisatorisch" auf englischen Schiffen, unterwegs in Richtung "America"; philosophisch am Themse-Ufer in London.

Mantua, 24. 2. 1607: Montiverdis "Orfeo", die erste komplette Oper, wird uraufgeführt. Ihr Protagonist, der mythische Sänger und Weltzivilisator Orfeo, führt vor, dass eine neue Empfindung im Zentrum seiner Gefühle steht: die Liebesbeziehung zu seiner Leier, entfaltet im neuen Medium akkordbegleiteter Sologesang. Er verleiht ihr das Prädikat mia cetra omnipotente, da es mit ihrer Hilfe gelang, seine schlangenbisstote Geliebte Euridice aus dem Hades zurückzuholen, an den er sie gleich wieder verschenkt. Er zweifelt, ob nicht ein hinterhältiger Gott ihn täusche: Er dreht sich um, gegen das Verbot, und sie entschwindet. Als Sternbild am Himmel bleibt sie ihm erhalten; dorthin gehen nun seine Gesänge; die geliebte Leier fest im Arm; die Blickrichtung weist ihm Apoll (= der Fürst des Hofs). Die strahlenden Augen seines Publikums ersetzen ihm die Augen der Geliebten.

Als "Orfeo" auf die Bühne geht, verliert Monteverdi seine Ehefrau, Sängerin Claudia de Cattaneis

An den Hades verliert Monteverdi gleichzeitig seine Ehefrau, die Sängerin Claudia de Cattaneis. Sie stirbt, als der "Orfeo" auf die Bühne geht. Die nächste Frau in seinem Haushalt, erneut eine Sängerin (und potentielle Ehefrau), rafft ein schneller Tod dahin. Es ist der historische Moment, in dem erstmals singende Frauen auf Bühnen dürfen; bis dahin sind die Soprane Kastraten. Aber: kein Liebesglück mit den singenden (irdischen) Euridices.

Orpheus zwei am 24. 2. 1607 ist unterwegs in Richtung New World: John Smith, militärischer Rang Captain, an Bord der Susan Constant, Flaggschiff der englischen Segler, die im April 1607 in "Virginia" die erste dauernde englische Siedlung in America gründen. Die Kolonisierungsarbeit seiner Abenteurertruppe wird bald mit der Orpheus-Plakette geadelt - von Orpheus drei, dem "Mann am Themse-Ufer", Francis Bacon, Politiker-Philosoph.

Bacon hat 1607 erkannt, die aktuelle Inkarnation des mythischen Sängers Orpheus zu sein. Diesen - der nach dem Tod seiner Geliebten Eurydike schwor, keine Frauen mehr zu lieben - haben erzürnte Mänaden auf der Insel Lesbos (genau deswegen) zerstückelt. Den Kopf warfen sie in den Fluss. Seinen Gesang stoppen konnten sie nicht. Singend taucht er immer wieder auf aus den Flüssen der Welt. Im Frühjahr 1607 treibt er die Themse runter. Bacon fischt ihn heraus und setzt ihn sich auf. 1609 macht er es öffentlich: Orpheus Bacon weist in die prosperierende Zukunft Britanniens. Die Arbeit der englischen Kolonisten in Virginia nennt er die praktische Orpheusarbeit des Moments: die Zivilisierung wilder Landstriche, Tiere und Menschen drüben in Virginia.

In der Titelrolle von Monteverdis "L'Orfeo" ist der Münchner Bariton Christian Gerhaher am 18., 21. und 23. Juli im Prinzregententheater zu sehen. (Foto: Wilfried Hösl)

Orpheus in America und seine Kolonisten überleben den ersten Winter in Virginia mit Hilfe einheimischer "Indians". Sie liefern Nahrungsmittel. Dabei tut sich ein junges Mädchen hervor, Pocahontas, "daughter of a chief", 12 Jahre alt. Sie wird einen englischen Kolonisten heiraten, einen Sohn gebären, mit der family London besuchen, Queen Ann treffen und dort 1617 sterben (an englischem Schlangenbiss: vergiftet). Orpheus John Smith schreibt (nach ihrem Tod), sie habe ihm das Leben gerettet, 1607. In den literarischen Gesängen von Virginia leben die beiden fort als Paar; Pocahontas: die "aus Liebe" zum Zivilisator überlief. Orpheus Smith "wechselt die Leier"; er avanciert zum ersten amerikanischen (Lügen)Schriftsteller; Pocahontas/Euridice lebt durch seinen Gesang; und liegt - als Mother of us all - (all Americans) in den Grundfesten des ersten Staats der USA. Orpheus drei, Bacon in London, steigt auf zum "Kanzler" des Königs.

Monteverdi in Mantua, dann Venedig, produziert unentwegt Klänge; vor allem Opern. Keine neue Heirat. Das Raffinement seiner Kompositionen entzündet sich an den Stimmkapazitäten einer Reihe wechselnder Sängerinnen. Er wird "einsame Spitze"; der wirkliche musikalische Orpheus der Zeit. Die diversen Opern-Feste 1607ff dienen Zwecken: Sie sind Teil höfischer Geburtstage und Hochzeiten. Aus Not. Die Fürsten der Renaissancestädte sind in der Klemme; sie brauchen Nachwuchs zur Herrschaftssicherung - mit dem es hapert. Die 12- bis 15-jährigen Fürstentöchter, auf die sie sich stürzen - gleich nach einsetzender Menstruation - versagen zunehmend ihre Dienste. Sie werden nicht schwanger; haben Fehlgeburten.

Die Opern der Feste sollen die Befruchtungsbereitschaft der Jungfürstinnen befeuern. Das neue musikalisches Medium "Oper" wird gefördert, um gebärfähige adlige Jungfrauen einzustimmen auf die von ihnen ab der Hochzeitsnacht erwartete Liebesarbeit - die pünktliche Lieferung thronfähiger Fürstenknaben. Daher wurden Opern meist nur einmal gespielt; eher gab es drei Opern zum selben Hochzeitsereignis als eine Wiederholung. Sie taten ihre Wirkung, oder eben nicht.

Noch ein tragischer Held: Orest in der Elektra von Herbert Wernicke. Günther Groissböck singt ihn am 16. und 19. Juli. (Foto: Wilfried Hösl)

Junge Bräute, die nicht gebären, werden abgeschoben (meist in ein Kloster) und ersetzt - durch eine Schwester oder eine andere junge Frau eines "koalitionsfähigen" Hofes. In der Tat brechen Stadtfürstentümer durch fehlende Erben zusammen; so auch das der Gonzagas von Mantua; Erbfolgekrieg ca. 30 Jahre nach Monteverdis Orfeo-Oper. Orpheus als Fertilisator; kleiner (großartiger) Angestellter der höfischen Macht mit der Aufgabe der Entfesselung umwerfender Sounds zur Stimulierung menschlicher Affekte; insbesondere der Empfängnisgefühle einer speziellen weiblichen Klientel.

Die Konstellation, die entsteht, wird - daher: Orpheus der Moderne - zu einer Blaupause für den jeweils amtierenden Kunst-Orpheus der 350 Jahre nach 1607. Macht, Frauen, Medien. Der "Sänger", verbunden der politischen Macht, die ihm Zugang zum jeweils modernsten technisch/artistischen Medium ermöglicht, erhält seine "Euridice" in der Funktion einer "medialen Frau", die ihm zuarbeitet, aber ausgewechselt werden kann, wenn Orpheus' Produktion eine neue Richtung einschlägt (so etwa alle 7 Jahre). (Sehr oft überlebt sie dies nicht). Diese Struktur - ich nenne sie die orpheische Produktionsweise - findet sich bei Komponisten, Malern, Schriftstellern: Produktionspaare mit auswechselbarer Frau in der Maske von love affairs. (Eine Reihe von ihnen habe ich beschrieben im Buch der Könige 1: Orpheus und Eurydike). Produkt: Neue Welten der Kunst. Im Medium "Oper" findet sich die historische Qual der Frauen am schönsten in Kunst verwandelt; in die spitzen Schreie der Sopranistin; "Ausdruck". Eurydikes Part.

Im Orpheischen hat das Künstler-Paar als ebenbürtiges keine Chance - erst nach Weltkrieg II, bei Niki de St.Phalle & Jean Tinguely, Straub/Huillét und einigen anderen, dreht es sich. Orpheus tritt ab (Orpheus 2, John Smith, ist nun Teilchenphysiker und durchforstet den Weltraum. Orpheus 3, der Philosoph, lebt als Hofnarr im Hof der Republik). Menschliche Beziehungen ersetzen die feudalistische Konstruktion. "Eurydike" wird lebendig; macht selber Kunst. Allen Sorten Paarungen offen.

Schreiben Frauen Opern?

Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit referiert am Sa., 27. Juni, bei Stadt der Frauen. Der Kongress dauert von 13 Uhr bis spät nachts, Alte Kongresshalle, Theresienhöhe 15

© SZ vom 18.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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