Erzählung:Frau Pawlikowska und der verlorene Schuh

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Juan Marsé: Gute Nachrichten auf Papierfliegern. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 96 Seiten, 14,90 Euro. (Foto: a)

Mit "Gute Nachrichten auf Papierfliegern" kehrt Marsé in die Kindheit zurück.

Von RALPH HAMMERTHALER

In Barcelona steht eine wunderliche Alte auf dem Balkon und wirft Zeug herunter, Kekse, Kroketten, Joghurt, vor allem aber Papierflieger, von ihr gefaltet aus Zeitungspapier und mit rotem Stift verziert. Positive Schlagzeilen nämlich unterstreicht sie: "Der Zirkus kommt" zum Beispiel oder "Die Spieler von Barça verschenken Spielzeug an kranke Kinder".

Im selben Haus, weiter unten, wohnt Bruno, 15 Jahre alt. In den Ferien versorgt er die Alte mit Zeitungen; sie gibt ihm ein paar Peseten dafür. Ihm ist klar, dass sie spinnt. Aber allmählich sieht auch er, was sie sieht, wobei man als Leser nicht so genau weiß, ob er nur ihren Vorstellungen zu folgen sucht oder bereits selber halluziniert.

Einer erinnerten alten Dame setzt diese Erzählung ein Denkmal

Wer hin und wieder mit Verrückten zu tun hat, weiß, dass man nicht im Mindesten mit ihnen klarkommt, wenn man immer nur korrigiert und nichts als einen Schmarren in jeder Äußerung erkennt. Ein bisschen muss man sich auf ihren Wahn schon einlassen, weil der Verrückte, ebenso wenig wie jeder andere auch, nicht immer nur hören will, dass er Schwachsinn redet. Darin liegt der Zauber dieser leichten Erzählung von Juan Marsé, "Gute Nachrichten auf Papierfliegern", und vielleicht hätte es die später daran angehängten Gewichte gar nicht gebraucht.

Die wunderliche Alte heißt Hanna Pawlikowska. Der Krieg hat sie aus Polen nach Barcelona verschlagen, wo sie, jung und schön, als Varietétänzerin jungen und alten Männern den Kopf verdreht hat, unter dem Namen Hanna Pawli. Im Viertel rufen sie alle Frau Pauli, ganz so, als kürzten sie den vermeintlichen Vornamen Paulina ab. Marsé stellt der Erzählung eine Widmung voran: "Zum Gedenken an Paulina Crusat, die mir die Tür öffnete." Insofern ist dieses Buch auch eine Liebeserklärung.

Es muss die Tür zur Vorstellungskraft gewesen sein, durch die aus Beobachtungen Literatur wird. Das schließt den Wahn mit ein. Bruno, der Junge, entdeckt (oder halluziniert) seinen kläglich gescheiterten Hippie-Vater beim Wühlen in Abfallkörben in der Fußgängerzone. Er überholt ihn und wirft ein angebissenes Brötchen weg, damit der Vater es findet.

Frau Paulis Erzählungen enthalten beunruhigende Details

Juan Marsé ist 1933 in Barcelona geboren, seine Erzählung ein lichtes Alterswerk. Mit dem Roman "Letzte Tage mit Teresa" hat er großen Erfolg gehabt; zweimal wurde das Buch verfilmt. Wenn nicht alles täuscht, hat er sich mit diesem Buch, dessen Original im Jahr 2014 erschien, in die Figur des halbwüchsigen Bruno in seine Jugend zurückversetzt. Aber nicht diesem Bruno setzt er ein Denkmal, sondern Frau Pauli.

"Besonders beunruhigte ihn, dass die Aufzählung von Kalamitäten dermaßen gebetsmühlenartig und genau war, ausgeschmückt mit so überraschenden wie unheimlichen Details: der im Regen verlorene Schuh, die tote Hand, der Stern auf der Brust . . .". Bekanntlich werden viele Holocaust- oder Ghetto-Überlebende im Alter von ihren Erinnerungen heimgesucht, ohne dass sie wüssten, wohin damit. So ergeht es auch Frau Pauli. Nur mit Hilfe eines jungen deutschen Offiziers ist sie dem Warschauer Ghetto entkommen.

Unterm Balkon glaubt sie ehemalige Spielgefährten zu erkennen und versorgt sie mit dem Nötigsten. Selbst ein Regenschirm soll hinunterfliegen. In der Gasse stößt Bruno auf zwei ausgemergelte Jungs und überredet sie, ihm beim Sammeln der Zeitungen zu helfen. Seine Mutter nimmt die Jungs gar nicht wahr, aber Bruno sieht sie, weil er weiß, dass Frau Pauli sie sieht. So wird er zu ihrem Komplizen.

© SZ vom 24.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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