Erzählung:Am Würstlstand

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Radek Knapp schwankt mit seiner Erzählung "Der Mann, der Luft zum Frühstück aß" zwischen Plauderei und Katastrophe.

Von CHRISTOPH SCHRÖDER

Eines Tages, Walerian schwänzt gerade wieder einmal den Besuch der Handelsakademie und hört stattdessen auf den Stufen des Musikvereins den Proben zu Beethovens Mondscheinsonate zu, setzt sich ein älterer Herr neben ihn, raucht einen Zigarillo und fragt den Jugendlichen, was er denn einmal werden wolle. Walerian hat kurz zuvor "Indiana Jones" gesehen und ist angetan von dem Gedanken, ein Leben wie Harrison Ford zu führen, also kommt seine Antwort ohne Zögern: "Archäologe". Und genau betrachtet hat er später genau diesen Beruf dann auch tatsächlich ergriffen, wenn auch die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit zunächst Verkäufer am Würstelstand und anschließend Heizungsableser bei der Stadt Wien lauten wird.

Radek Knapp hat sich bereits in seinem Roman "Herrn Kukas Empfehlungen" im Genre des Schelmenromans versucht. Nun erzählt Knapp, 1964 in Warschau geboren und im Alter von zwölf Jahren nach Wien gekommen, eine autobiografisch grundierte Geschichte erneut aus dem Blickwinkel eines vermeintlichen Taugenichts: Als Walerian ein Jahr alt ist, so wird es jedenfalls behauptet, liefert die Mutter das Kind bei den Großeltern über das Wochenende ab und kehrt elf Jahre später zurück. Kurz darauf beschließt sie, ein neues Leben anzufangen und reist mit Walerian nach Österreich aus. Alles steht auf Anfang. Für den Jungen ist die deutsche Sprache, eine von Knapps vielen nicht sonderlich originellen Übertreibungen, so schwierig zu lernen "wie allgemeine Relativitätstheorie". Die einzigen Sätze, die er anfangs auf Deutsch sprechen kann, hat er in alten Kriegsfilmen aufgeschnappt.

Die Wiener werden zu Zootierchen, die es zu bestaunen und erforschen gilt

Der Ich-Erzähler blickt die neue Welt mit großen, staunenden Augen an. Der Blick auf Strukturen, Rituale und gesellschaftliche Konstellationen ist der eines Grundfremden, der das uns allen Vertraute als exotisch wahrnimmt. Die Wiener werden bei Knapp zu Zootierchen, die es zu bestaunen und zu erforschen gilt. In der Schule kommt Walerian naturgemäß nicht zurecht. Als er der Mutter erzählt, dass er die Schule schmeißen wird, wird er umgehend vor die Tür gesetzt und beginnt seine Berufslaufbahn am Würstlstand. Die stärksten Passagen in Knapps Erzählung sind jene, in denen Walerian in den Wiener Wohnungen Alltagsarchäologie betreibt. "Ich war", so heißt es, "bis jetzt davon ausgegangen, dass die Menschheit sich in zwei Sorten teilen würde: in Reiche und Arme oder meinetwegen in die Dummen und die Klugen. Aber das war falsch. Sie teilt sich in ,Menschen auf der Straße' und ,Menschen in den eigenen vier Wänden'".

Natürlich liegt hinter dem heiteren Tonfall des Ich-Erzählers ein ernsthaftes Problem verborgen: Heimatlosigkeit, Verlorenheit. Walerian ist, wie er selbst es ausdrückt, "in einer Reparaturphase". In einem selbsttherapeutischen Appendix brechen aus dem erwachsenen Walerian jene Verlustbeschreibungen heraus, die der Heranwachsende in seinem hüpfenden Plauderton weghumorisiert hat: die Sehnsucht nach den Großeltern, nach der Übersichtlichkeit einer geborgenen Kindheit, nach der Sicherheit in einer vertrauten Sprache. Psychologisch mag das sehr plausibel sein, literarisch aber ist dieser Bruch in einem so schmalen Erzählraum nur schwer zu verkraften. "Der Mann, der Luft zum Frühstück aß" ist ein merkwürdig unentschlossenes Buch, in dem die Komik zu häufig in Zoten kippt und die Tragik ohne Tiefe bleibt.

© SZ vom 29.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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