Erzähldebüt:Morgenhelle

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Sprachfantasie ist Jan Snela wichtiger als Handlung. Ende Juni ist er beim Bachmann-Preis in Klagenfurt dabei.

Von HANS-PETER KUNISCH

"Es war ein Mittwoch und Zeit für mein Milchbad." Einen Erstling so zu eröffnen, unter dem Titel "Milchgesicht", dazu mit einem Autorenfoto, das diesem Titel entspricht, ist eine der Frechheiten, an denen man einen erkennt, der ungeniert seine Marke setzt. Aber noch deutlicher macht es die Sprache: "Die Tankstelle war ein schon von weitem zu spürendes Glimmen von kleinen Stängeln, ein Pulsen des Safts in den Schläuchen, ein Sich-Umdreh'n von Bäuchen, ein Kotzen von Schlangen in Tanks rein, ein in Gesichter geschriebenes Bangen, das Geld möge reichen."

Kann man so über eine Tankstelle sprechen? Sind das nicht zu viele Bilder in einem Satz? Sollte sich der Autor nicht zwischen Schläuchen und Schlangen entscheiden? Hat das "Sich-Umdreh'n von Bäuchen" spezifisch mit dem Tanken zu tun? All diese Fragen sind Jan Snela, 1980 in München geboren, offensichtlich ziemlich egal. Fantastisch einfallsreich fabuliert er drauflos - sein Buch ist eine wilde, erfrischende Angelegenheit, gerade in Zeiten von Selbstoptimierung und Überanpassung, auch bei Schriftstellern.

Wird auch beim Bachmann-Preis dabei sein: Jan Snela. (Foto: Sebastian Marincolo)

Für "Milchbad" hat Snela schon 2010 den Preis "Open Mike" erhalten, doch er hat sich Zeit gelassen, auch an den anderen Geschichten seines ersten Erzählbandes zu arbeiten. Handlung ist jeweils da, aber nicht entscheidend. Die Hauptrolle fällt der Sprachmusik zu; was thematisiert wird: "die Sprache hier, der Erinnerung, ordnet mir alles zu gleißender Gleichzeitigkeit, Assonanz, und ich will sie gewähren lassen." Die Assonanz wird zum Motor eines Stils, der sich neben Erstlingen, die vor allem nichts falsch machen wollen, fremd ausnimmt, aber doch seine Ahnen hat. Snelas Auftakt erinnert an Peter Weber und seinen hochmusikalischen "Wettermacher", an Arno Geigers übersprudelnden Erstling "Kleine Schule des Karussellfahrens" oder auch an Paul Nizons legendäre Rom-Beschwörung "Canto", sie alle waren, je auf ihre eigene Art, auf den Spuren Robert Walsers unterwegs.

Sprach- und Erzählfantasie hilft, uralte Geschichten neu abzumischen. Snelas erste drei kurze Erzählungen handeln von der Liebe: In "Milchgesicht" tröstet sich das Ich mit dem Ritual des Milchbads über den Verlust der Freundin hinweg, weshalb es dieses Milchgesicht zur Tankstelle treibt, um die dort vorhandenen siebzehn Liter zu kaufen - ein Abenteuer.

Im zweiten Text, "Neulich im Spooky Speaker", sitzt der Erzähler früh um halb acht in der S-Bahn: "Draußen hing Nebel. Kauernde Häuser, Weiblein mit Kräuterkörben, die über Wiesen staksten, stakende Vogelscheuchen, verblurrte Kühe geisterten fad vorüber im Dunst der Diesigkeiten." Während man sich, ob der "verblurrten" Kühe, noch die Augen reibt, sieht der Ich-Erzähler, der gerade in der Gespenster-Fachzeitschrift Spooky Speaker blättert, ein Mädchen: Vera. Ansatzlos "jubiliert" er "in die Morgenhelle über dem Quai der Haltestelle." Die beiden fallen bald übereinander her, eine ekstatische Zeit im Austausch der Säfte beginnt, ohne stilistische Peinlichkeiten erzählt, bis Vera "ihr Geisterwesen (. . .)" offenbart, sie schwingt sich "zum Fenster hinaus", ist, materiell, wohl nie gewesen.

Snela hat es in der Liebe mit den Losern, die, weil sie sonst zu nichts kommen, übersinnliche Welten entdecken dürfen. In der dritten Geschichte, in Paris, sehen sich Protagonist und Protagonistin nach aufwendiger Vorbereitung eine Nacht lang an. Das bleibt unvergesslich.

Etwas weniger überzeugt folgt man Henri, dem Doktoranden, der auf einer Kostüm-Party ein Mädchen kennenlernt, das, wie es behauptet, "ein Tier sei". Nach der Heimkehr am nächsten Morgen wieselt für diesen Henri plötzlich ein Wiesel herum - trotz Hermine, seiner Freundin, und ihres Mini Cooper. "Das Wiesel" ist die umfangreichste Erzählung des Bandes, aber hier verheddert sich Snela etwas in seinen Scherzen. Man realisiert, wie wichtig der Plot auch bei dieser Art Schreiben sein kann. Wenn die Grundgeschichte an den Haaren herbeigezogen wirkt, wird es schwierig mit der Geduld.

Doch Snela kommt zurück. Auch im zweiten Teil des Erzählbandes gibt es Glanzstücke. Etwa "Die Alte". Etwas weniger verspielt, aber nicht weniger grotesk als die Liebeserzählungen. Die Alte lebt beinahe nicht mehr, scheint kaum Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Am Anfang wirkt die Geschichte, als solle die arme Frau einfach ziemlich trocken und böse fertiggemacht werden. Doch als die Protagonistin ein paar junge Drachenflieger trifft, ist sie auf einmal wie gebannt, entwickelt Energie. Ohne dass explizit gesagt würde, warum sie so begeistert ist.

Allmählich begreift man: Die Alte weiß, dass sie sterben wird, und will es wohl auch, aber auf ihre Weise. Sie will in den Himmel hoch, fliegen. Es gelingt, aber irgendwo bleibt sie hängen. Eine Wolke? Endlich begreift sie: "sie schwelgt im dickichtlichten, weichen, im Wind bewegten, erdnahsten Bartzipfel Gottes. Sie muss sich darin verfangen haben. Als er sich niederbeugte, nach ihr zu sehen."

Ein weiterer Höhepunkt des zweiten Teils ist "Klopstock". So der kalauernde Titel einer Geschichte, deren Held, ein Taugenichts, gerade als Spitzenklöppler Erfolg hat: Nachtarbeit, höchste Ansprüche, feinste Ware, deren Fabrikation durch Konsum der einen oder anderen Droge erleichtert wird. Wieder schafft es Snela, einen Außenseiter zu zeichnen, dessen Haltung Unabhängigkeit beweist.

Klopstock, "ein Prachtbild an Kargheit, Ikonizität und Anmutsarmut", entpuppt sich schließlich als der Besen, mit dem der Spitzenklöppler gelegentlich durch die Gegend streift. Aber nachdem sein Chef, Gaspard, sich in einer "mit Champagner gefüllten Badewanne, verpuppt mit Chinaseidenfäden, spätnachts ertränkt hat", wie der Klöppler aus der Zeitung erfährt, ist sein Entschluss schnell gefasst: "Nach reiflicher Überlegung holte ich Klopstock aus seiner Zimmerecke, öffnete eines der Schallschutzfenster, und flog davon."

Es steckt einiger Eskapismus in diesen überraschenden Flieger- und Zauber-Erzählungen. Macht doch das Leben interessanter, dann muss ich gar nicht fliehen, scheinen Snelas Helden dem Leser zuzu-rufen.

© SZ vom 13.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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