Epiphanie:Gegen die Fadheit

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Thomas Mann ließ Gott nicht persönlich auftreten, aber er hat ihn fast zu einer Romanfigur gemacht.

Von Gustav Seibt

Dem Gottesbegriff in Thomas Manns Josephsromanen fehlt es beileibe nicht an gebührender Großartigkeit. Gott sei der Raum der Welt, lautet die bündige Feststellung, aber die Welt ist nicht sein Raum. Es hilft also nichts, Naturmächte anzubeten, und stünden sie noch so hoch wie beispielsweise die Sonne. Gott ist nicht am Himmel, bestenfalls im Himmel. Über diese Feinheiten findet am theologischen Höhepunkt des Romanwerks zwischen Joseph und dem Pharao ein schönes, spitzfindiges Gespräch in dekadent-luxuriöser, spätzeitlich anmutender Umgebung statt - in der sogenannten "kretischen Laube".

Dabei wird auch rekapituliert, was es mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Gott und den Menschen auf sich hat. "Die Menschen sind ein ratlos Geschlecht", weiß der junge, nervöse Ägyptenherrscher. "Sie wissen nichts zu tun aus sich selbst. Immer ahmen sie nur die Götter nach, und je wie das Bild ist, das sie sich von ihnen machen, danach tun sie. Reinige die Gottheit, und du reinigst die Menschen."

Dieser Prozess der Gottes- und Menschenzivilisierung vollzieht sich in der Wiederholungsform des Mythos: Die alten Geschichten werden von Mal zu Mal nacherlebt und neugespielt, und auf jeder Stufe ein wenig bewusster. So wird Schritt für Schritt aus der Zwangsmacht des Mythos die Freiheit des Ichs, das weiß, was gespielt wird. Die Erwählungsintrige zwischen Jaakob und seinem Bruder Esau wiederholt die Geschichte zwischen Abraham und Ismael, so wie diese das Drama zwischen Kain und Abel nachspielte. Dieses Schema kulminiert in Josephs Brunnensturz und Verkauf nach Ägypten durch seine Brüder.

Josephs scheinbarer Tod aber wiederholt für Jaakob die schaurige Geschichte der Beinahe-Opferung Isaaks durch Abraham - Anlass eines verstörenden Rückfalls Jaakobs in ein Heidentum aus Verzweiflung. Und natürlich weist Josephs Verschleppung ins ägyptische Totenreich schon voraus aufs allergrößte Drama der Gottes-Menschen-Geschichte, die Opferung des Gottessohnes Jesus durch seinen Vater, zur Abschaffung des Menschenopfers, zum Gewinn der Gnade.

Das System von Wiederholungen, Korrespondenzen und Steigerungen in Thomas Manns tetralogischem Großwerk ist gut bekannt. Der neue Kommentar wandelt hier auf längst gebahnten Wegen. Rahel "ist" in mythischer Präfiguration Maria, ihr Gegenbild Mut-em-enet, Potiphars Weib, "ist" die Göttin Ischtar, die sich an Tammuz, dem heidnischen Vorbild des in die Unterwelt fahrenden und wiederauferstehenden Gottes, verzehrt, sie "ist" Isis (und irgendwie ist sie auch die in Felix Krull vernarrte Madame Houpflé - ist sie gar Thomas Manns alter ego?).

Ein gewaltiges Spiel! Die Menschen "gehen in Spuren", sie werden in Erinnern und gesprächsweiser Rekapitulation immer feiner, reifer, zivilisierter, gerade weil sie um die dunklen Wurzeln ihres Herkommens immer noch wissen. Aber wozu das Ganze? Warum hat Gott dieser Welt ihren Raum überhaupt gegeben? Hier kommt der Roman an seinen heikelsten Punkt.

Solange er von den Menschen und ihren älteren Göttern und Kulten berichtet, ist er ganz bei sich, im irdischen Irren und Erkennen. Aber wenn er die Voraussetzungen des Spiels erörtert, muss der Roman von Gott selbst reden, er muss ihn, im allerkühnsten Wagnis, zu einer handelnden Figur machen. Er darf dabei allerdings nicht hinter die im Roman selbst erreichte Stufe der Gotteserkenntnis zurückfallen, ihn also bestimmt nicht zu einer innerweltlichen Figur machen. Denn der Gott des Romans ist zwar der Raum des Mythos, aber der Mythos natürlich auf keinen Fall sein Raum.

Eigentlich geht das nicht, aber trotzdem muss es versucht werden. Wie verwirklicht Thomas Mann das Unmögliche? Er lässt Gott, anders als Goethe im "Prolog im Himmel" des "Faust" nicht selbst auftreten. Dafür lässt er über ihn reden, genauer gesagt: tuscheln, wispern, ja "kichern". Es tuschelt und wispert in den Kreisen und Rängen der Engel, an Gottes überweltlichem Hofstaat, den man sich - natürlich nur gleichnishaft - ein wenig wie ein sphärisches Versailles oder wie einen strikt hierarchischen Pharao-Hof vorstellen muss. Eigene Meinungen, gar Kritik, gibt es hier selbstredend nicht, wohl aber Andeutungen, vielsagende Blicke, vereinzelt fallen gelassene Worte, die auf stummes Einverständnis rechnen. Weiteres Reden unnötig.

So geschieht es im "Vorspiel in oberen Rängen" zu Beginn des viertes Bandes, zu "Joseph der Ernährer". Parallel zu Richard Wagners Ring steht es an der Position des Nornenvorspiels vor der "Götterdämmerung". Beide Vorspiele haben die Funktion, die Grundzüge der ganzen Geschichte noch einmal zu rekapitulieren. Hier erfahren wir, warum Gott sich die Menschen erschuf: Er langweilte sich, er litt an "Fadheit". Er hatte mit den Engeln ihm annähernd gleichende schuldlose, aber unfruchtbare Geschöpfe hervorgebracht und auf Erden mit den Tieren fruchtbare, aber schuldunfähige Geschöpfe. Nun brauchte er etwas dazwischen, ein Wesen nach seinem Bild, zugleich aber fruchtbar, und fähig zum Bösen. Denn auch Gott ist fähig zum Bösen, weil sonst das Gute ja nicht erkannt werden und bestehen könnte. Gott braucht den Menschen, um erkannt zu werden, und zwar auch als möglicherweise böser Gott. Aber ist das ganz ernst? Nein, natürlich nicht, es spielt sich ab in einer erhabenen Ironie, im Modus des Spiels. Und das bemerken die bestenfalls tuschelnden Höflingskreise mit scharfem, wenn auch züchtig gesenktem Blick. Schon die Fadheitsbekämpfung durch Weltenschöpfung geschah ja auf Anraten des einen abtrünnigen Engels, Semael, der nach seiner Verbannung zum Satan wurde.

Semael-Satan, der Gott natürlich nur das anraten konnte, was dieser längst vorhatte (wie in allen absolutistischen Regierungsformen), meinte es ziemlich ernst mit dem grausamen Spiel von Sünde und Belohnung, das da unten, unter den Menschen aufgeführt werden sollte. Nicht so Gott offenbar, finden die höchsten Kreise. Gott straft und vergibt und belohnt in einer übertriebenen Weise, müssen sie feststellen. "In den Kreisen herrschte die natürlich mit größter Vorsicht ausgetauschte Meinung vor, dass in Ansehung von Lohn und Strafe dort unten nicht alles mit den rechtesten Dingen zuging, und dass die auf Semaels Rat gestiftete moralische Welt nicht mit dem nötigen Ernst gehandhabt wurde." Hemmungslos, etwas unbeherrscht ist dieser Gott!

Und dann macht er Sachen, die hart an seine überirdische Würde gehen. Er lässt sich vorübergehend zum Stammesgott mit eines machtlosen, unglamourösen Wüstenvolks erheben, des Stammes Abrahams. Warum das? Nun, das Völkchen Abrahams ist theologisch hochbegabt, es kann also die Aufgabe der Gotteserkenntnis besser erledigen als die luxuriöseren heidnischen Großmonarchien am Nil und im Zweistromland. Das "biologische Genussleben" als Volksgott ist nur ein Übergangszustand, weil dem erwählten Volk "ein dringlich sorgendes Bemühen um die Feststellung der Natur Gottes eingeboren war; von Anbeginn in ihm lebendig war ein Keim der Einsicht in des Schöpfers Außerweltlichkeit, Allheit und Geistigkeit."

Der Kommentar verweist für die Gedankenfigur des "Volksgottes" auf Oscar Goldbergs 1925 erschienene Schrift "Die Wirklichkeit der Hebräer", die, dem faschistischen Zeitgeist folgend, den hebräischen Volksgott radikal antiuniversalistisch deutete und das Volks Israel allen Ernstes als "Verkörperung" seines Gottes verstand. Der Bezug verweist auch auf eine andere Möglichkeit, die Thomas Mann bewusst ausschlug. Er hätte die Spannung zwischen dem Abrahamsstamm und Ägypten auch nach den Kategorien Oswald Spenglers konstruieren können, als Widerstreit autonomer, zur Kommunikation unfähiger "Kulturen".

Aber sein Gott ist eben ein Weltgott, kein Volks- oder Kulturgott, das Attachement an den Abrahamsstamm dient der Vorbereitung der Universalisierung, die der weltgewandte Joseph als Vorläufer Jesu Christi schon einleitet. Unter den gesenkten Wimpern der höchsten Kreise meint man deutliches Augenrollen zu erahnen: Was für ein Aufwand für etwas, das eigentlich von vornherein klar war! Gott ist der Raum der Welt, aber die Welt nicht sein Raum! Gut, dass "Man" (also der von Launen nicht völlig freie oberste Herr) es ein für alle Male durchgespielt hat.

© SZ vom 26.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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