Englische Literatur:Stumme Geister vom Meer

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John Burnside in seinem Haus in Pittenweem, an der schottischen Küste. (Foto: Rob McDougal/CAMERA PRESS/TSPL)

Beinahe wie Fliegen: Der große Auswahlband "Anweisungen für eine Himmelsbestattung" versammelt Gedichte des schottischen Lyrikers und Romanciers John Burnside.

Von Nico Bleutge

Fliegen will gelernt sein. John Burnsides Erzähler braucht nur ein stillgelegtes Zechengebäude, auf dessen Dach man klettern kann. Ein schmutziges Bettlaken umgebunden, vor den Augen eine Schwimmbrille - schon geht es los. Mit gespreizten Armen und Beinen saust er durch die Luft, während die Hände kleine Schwimmbewegungen machen. Und auch, wenn der Sprung nur zwei Sekunden dauert, in der Fantasie ist der Moment schon wenig später zu einer Minute reinen Schwebens geworden, und der Erzähler wird seinen Glauben an das Fliegen ein Leben lang nicht aufgeben.

Die wiedererweckten Momente des Lebens bilden den Glutkern dieser Verse

Der Traum vom Fliegen ist freilich nur der lichte Fluchtpunkt in einem ganz und gar dunkel gezeichneten Leben. "Lügen über meinen Vater" und die vor Kurzem auf Deutsch erschienene Fortsetzung "Wie alle anderen" sind die ersten beiden Bücher einer Erinnerungstrilogie, die der schottische Schriftsteller John Burnside während der vergangenen zehn Jahre verfasst hat. Darin geht er zurück in die Vergangenheit, schreibt über seine Erfahrungen mit psychiatrischen Anstalten und eine Form von Wahnsinn, die dem Fliegen auf verquere Art verwandt ist. Schon als Kind, notiert Burnside, habe er sich eine Gegenwelt geschaffen: Sphären aus Baumresten, Farben und Bewegungen am Himmel - und am Rand ein wildes Tier, "das in großen Sätzen davonläuft".

Wer allerdings glaubt, nur jenseits der Realität sei es möglich, von solchen Dingen zu reden, wird von John Burnside eines Besseren belehrt. Seine Gedichte, die jetzt in einem großen Auswahlband erschienen sind, feiern das "Herz der Materie" auf eine Weise, die ihresgleichen sucht. Es mögen Pflanzen sein, Lichtwechsel, Regentropfen oder Walknochen am Strand - die untergetauchten und in den Wörtern zum Leben erweckten Momente sind die eigentlichen Glutkerne dieser Verse. Stets gibt es zugleich eine zweite Schicht. Ein anderes Leben, eine "andere Welt", wie Burnside immer wieder schreibt. Eine bestimmte Form von Schweigen oder Leere, dunkle Wesen, die durchs Bild huschen, die Schattenseiten des stets flüssigen Ichs oder einfach nur eine andere Beleuchtung der Dinge, "jenseits von Wörtern". Es ist eine neue Frequenz, die von der Wahrnehmung nicht etwa abgetrennt ist, sondern sich im Licht entfaltet, im Wind zu hören ist, in den Atmosphären spürbar wird.

Wechselhaft sind diese Erscheinungen allesamt. Sogar die Vergangenheit ändert sich in John Burnsides Gedichten ein ums andere Mal. So ist es kein Wunder, dass er auch in seiner Sprache ein Meister der Verschiebung ist. Oft setzt er mit einer allgemeinen Vorstellung ein, die er dann anschaulich macht. Geschickt überführt er die Phänomene in ein Gefüge aus Verwandlungen. Oder er baut etwas Gesehenes vor dem Leser auf, denkt über das eigene Ich nach, um bald schon alles ins Spiel der nächtlichen Schneeflocken aufzulösen. Dabei interessieren ihn stets die Lücken zwischen den Dingen und den Wörtern.

Iain Galbraith, der vor einigen Jahren schon für die erste Sammlung von Burnsides Gedichten verantwortlich war, hat eine dicke Spur durch dessen lyrische Mäander gezogen. Vor allem aus den letzten acht Bänden hat Galbraith Texte ausgewählt und sie in eine eigene, durchwegs überzeugende Ordnung gebracht. Am schönsten sind vielleicht die zyklischen Arbeiten, denn dort gelingt es Burnside mit seiner Mischung aus Bildern, Erzählung und Reflexion, etwas für den Leser sichtbar und fühlbar zu machen. Da man über Rhythmus und Klang gleichsam direkt an die Sprachbewegung gekoppelt ist, erlebt man den dauernden Wechsel der Momente mitsamt ihren bewusst gesetzten Unschärfen im Wortsinne mit. Form und Inhalt durchdringen sich hier untrennbar.

Es ist keine leichte Aufgabe, diese Verse zu übersetzen. Iain Galbraith ist dort stark, wo er Burnsides lang schwingenden Atem mit den vielen kleinen rhythmischen Schlenkern zu verbinden weiß. An solchen Stellen glaubt man, es könnte auch der Übersetzung gelingen, "die Welt neu zu erfinden". Aber leider greift Galbraith im Deutschen nicht selten knapp daneben, wenn es darum geht, das passende Sprachregister für Burnsides mal raue, mal geschmeidige Sprache zu finden. Ein Wesen "poltert" hier "durchs Gebüsch", aus "a boy she had mostly imagined" wird ein "meist phantasierter Junge", und "die Büchse des Vaters" ist "zuhanden", wo es im Englischen doch so leicht "with my father's gun" heißt. Auch hätte ein genauerer Blick des Lektorats nicht geschadet. Denn es gibt viele idiomatische Wendungen, die ungenau benutzt werden, nicht angeglichene Fälle ("Auf einem Hof nach der anderen", "der Geschmack vom Regen", "Ewiger Wiederkehr" lautet der Titel eines Gedichts) und simple Tippfehler.

Da manches etwas ungenau übersetzt wurde, hilft es, dass die Ausgabe zweisprachig ist

Das ist schade, denn so kann man die deutschen Sätze nur halb genießen. Zum Glück ist die Ausgabe zweisprachig: So hat man jederzeit die Möglichkeit, zum englischen Text zu wechseln, um eine Formulierung nachzusehen. Oder den vielen Verstorbenen nachzulauschen, die durch Burnsides Gedichte ziehen, "stumme Geister vom Meer" und "magere Tote, vom Salz der Ferne berührt". Die Gedichte versuchen, die Erinnerung wachzuhalten an schottische Dörfer mit ihren Schankstuben und Gemeindesälen, Welten aus "Gestrüpp und Nebel".

Dort findet der Sprecher in der Erinnerung etwas, das er aller Lust an Veränderung zum Trotz "Zuhause" ("home") nennt. Es passt zu John Burnsides hakenschlagendem Denken, dass es ausgerechnet solche flüchtige Stimmungen sind, aus denen dieses Zuhause besteht: Lichtflächen, Gerüche - und jenes "Himmelsflackern in unseren Knochen, / das beinahe Fliegen ist".

John Burnside: Anweisungen für eine Himmelsbestattung. Ausgewählte Gedichte. Englisch - Deutsch. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Iain Galbraith. Carl Hanser Verlag, München 2016. 304 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 20.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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