Englische  Literatur :Dr. Hohl und das Requiem

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Wie man auf formvollendete Weise einen Giftbecher leert, zeigt der Engländer Will Self in seiner Novelle "Leberknödel". Darin macht der britische Humor einen Ausflug in die Schweiz und besucht das Grab von James Joyce.

Von Kristina Maidt-Zinke

Dieses Buch birgt einige Überraschungen. Zunächst verblüfft die äußere Gestalt: Brevierformat, ein mattgoldener Einband, auf dem Autoren- und Titelzeile mit einer senkrechten grafischen Linie die Form eines Kruzifixes bilden. Im Inhaltsverzeichnis entsprechen die acht Kapitelüberschriften der Satzfolge von Requiem-Vertonungen, vom Introitus bis zur Communio. Sonderbar bis skurril kontrastiert die religiöse Anmutung mit dem Titel "Leberknödel". Und dann steht da noch "Roman", was im Impressum sogleich widerlegt wird: Der Text entstammt dem Band "Liver. A Fictional Organ with a Surface Anatomy of Four Lobes" (Leber. Fiktionales Organ mit einer Oberflächen-Anatomie von vier Lappen), den der britische Schriftsteller Will Self 2008 veröffentlicht hat. Er enthält zwei Novellen und zwei Kurzgeschichten zum Thema "Leber", und die hier vorliegende Novelle (denn um eine solche handelt es sich), die auch im englischen Original "Leberknödel" heißt, ist sozusagen einer der vier "Lappen".

Will Self, Jahrgang 1961, Oxford-Absolvent in Philosophie und ehemaliges Mitglied der Punkband "The Abusers", ist Journalist, Zeichner, Satiriker sowie Autor fantastischer und grotesker Prosa. Er gilt als Spezialist für zeitgenössische Neurosen, aber auch für literarisch fruchtbar gemachte Drogenerfahrungen. Bei uns ist er zuletzt mit dem Roman "Regenschirm" (2014) in Erscheinung getreten, der es 2012 auf die Shortlist zum Booker Prize geschafft hat. Das war eine wilde und überbordende, im Vergleich zu manch früherem Werk jedoch überzeugend strukturierte Mischung aus Psychiatrieroman und Jahrhundertpanorama. In der kleinen Form, so scheint es nun, kann Self seine Qualitäten noch besser zur Geltung bringen. Der Leberknödel ist ein seltsames und irritierendes Gebilde, so amüsant wie erschütternd, und eben deshalb ein hochsolides Stück Literatur.

Joyce Beddoes, eine siebzigjährige Witwe aus Birmingham, die unheilbar an Leberkrebs erkrankt ist, fliegt nach Zürich, wo sie das spezifisch schweizerische Angebot eines begleiteten Suizids in Anspruch nehmen will. Diese Entscheidung ist auch ein Resultat ihrer beruflichen Prägung: In der Verwaltung eines Krankenhauses hat Joyce sich Strategien für geordnete und menschenwürdige Problemlösungen antrainiert. Mit ihr reist Tochter Isobel, eine lebensuntüchtige, alkoholsüchtige Mittdreißigerin, die ihre Mutter überredet hat, die letzten Stunden an der Limmat so komfortabel wie möglich zu gestalten.

Lunge, Herz, Leber und Darm - und was ist mit den übrigen Bestandteilen des Körpers? Wann menschliches Gewebe als eigenes Organ gilt, ist erstaunlich unklar. (Foto: imago)

Der Autor kennt ganz offenbar, was er beschreibt - den stilvoll sterilen Chic eines namentlich genannten Viersterne-Hotels, die kühl-behäbige Lebensqualität des Finanzplatzes Zürich, womöglich gar die Usancen und das Ambiente einer professionellen Sterbepraxis. Doch seine Kunst besteht darin, das alles aus der Perspektive einer Mittelschicht-Pensionärin zu betrachten, die dabei ist, ihren Abschied von der Welt zu managen, mit den letzten Kräften, die ihr von Behandlungen geschwächter Körper, ihre von Erinnerungen und Ängsten heimgesuchte Seele noch mobilisieren können.

Freilich besitzt Joyce Beddoes wie ihr Erfinder ziemlich viel von jenem Humor, den wir als genuin britisch schätzen und der das Absurde wie das Makabre mit eisigem Understatement zum Glänzen bringt. Deshalb folgen wir ihrer gruseligen Geschichte ohne Mühe, ja sogar mit Vergnügen - und werden vorerst belohnt. Im allerletzten Moment, als sie, mit Schokolade und Anti-Brechmittel präpariert, den Giftbecher leeren soll, den der fürsorgliche Dr. Hohl ihr überreicht hat, macht Joyce einen Rückzieher: Sie hat plötzlich keine Lust mehr auf Selbstmord, auch weil ihr klar wird, wie unverhohlen ihre Tochter auf das Erbe spekuliert. Sie entsorgt ihre Medikamente in der Hoteltoilette, schickt die hysterische Isobel in die Wüste und beschließt, sich völlig passiv zu verhalten. Was dazu führt, dass sie sich - unbeabsichtigt, doch medizinisch nicht ganz abwegig - immer besser fühlt und sich kontinuierlich ihre Autonomie zurückerobert.

Die Mittelstands-Heldin ist nicht ganz allein in Zürich unterwegs, sie hat James Joyce als Begleiter

Aber schon lauert die nächste schräge Wendung: Durch Zufall gerät sie in katholische Kreise, namentlich an das etwas eigenartige Paar Ueli und Marianne, das sich alsbald ihrer annimmt. Wenig später vertauscht sie das teure Hotelzimmer mit dem Logis bei der Professorenwitwe Stauben, deren an Krebs verstorbene Tochter von der katholischen Gemeinde als Heilige verehrt wird. Und schließlich soll Joyce, deren mysteriöse Gesundung nun rasche Fortschritte macht, von der Diözese als ein Fall von Wunderheilung instrumentalisiert werden - nicht zuletzt als Waffe im religiösen Kampf gegen das Geschäft mit der Sterbehilfe. Sie aber, die an gar nichts glaubt, verweigert das Ansinnen ebenso wie zuvor den Giftbecher.

Will Self: Leberknödel. Roman. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 208 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro (Foto: N/A)

Und nun folgt die erstaunlichste Phase dieser schwarzkomischen Schweizer Reise: In hinterhältig subtilen Sprachnuancen und Kippfiguren schildert Will Self einen seelischen Prozess, der darauf hinausläuft, dass Joyce Beddoes, auf unerklärliche Weise dem Krebstod entronnen, am Ende auch das geschenkte Leben verweigert. Nur kurz währt der euphorisierende Reiz zurückgewonnener Körperfreuden, etwa der üppigen Leberknödel-Mahlzeit in der "Kronenhalle", während die Sexszene mit dem otternköpfigen Ueli schon stark ins Traurig-Groteske spielt.

In einer Volte, die sich gleichsam unterschwellig ereignet, macht der Autor plausibel, dass eine Stadt wie Zürich, die landschaftlich wie ökonomisch aus dem Vollen schöpft, den Lebensüberdruss nähren kann. Zugleich konfrontiert er sein Vexierspiel aus Heilung und Erlösung, Humanismus und Sinnfindung mit der Glaubensresistenz seiner Heldin. Immer wieder durchsetzt er ihren Wahrnehmungs- und Erinnerungsstrom mit Bruchstücken aus dem Requiem-Text, den die langjährige Chorsängerin verinnerlicht hat. Als Ohrwurm begleitet er sie bis zu ihrer letzten, wohlüberlegten Entscheidung.

Das ist aber noch nicht alles. Auf der Website des Autors ( www.will-self.com) findet sich der unbedingt lesenswerte Essay eines Iren namens Paul Doolan. Er weist bis ins Detail nach, was keiner der englischen Kritiker bemerkt hatte: dass es sich bei den Zürich-Erlebnissen der Joyce Beddoes um eine camouflierte Wanderung auf den Spuren von James Joyce handelt, der dort 1941 starb und begraben wurde. Das reichert den intellektuell so nahrhaften Leberknödel um eine detektivische Dimension an - und macht neugierig auf die drei übrigen "Lappen" des Liver-Bandes.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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