Uraufführung in der "Elphi":Materialschlacht an der Elbe

Uraufführung von Jörg Widmann in der Elbphilharmonie

Herr über die Sintflut: Kent Nagano dirigiert Jörg Widmanns"Arche".

(Foto: Christian Charisius, dpa)

Zwei Flügel, drei Chöre, vierfach besetzte Bläser: Die Elbphilharmonie erlebt mit der Uraufführung von Jörg Widmanns "Arche" ihre erste große Belastungsprobe. Die Fülle wird dem Abend zum Verhängnis.

Von Julia Spinola

Kleiner ging es nicht. Wenn man ein Werk zu schreiben hat, das ein weltweit bejubeltes Konzerthaus-Ereignis einweihen soll, dann muss man kompositorisch einer Übermacht des Anlasses ins Auge blicken. Das ist eine ebenso ruhmvolle wie undankbare Aufgabe. Der 1973 in München geborene Komponist und Klarinettist Jörg Widmann, ehemals Schüler von Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm, scheint dafür wie geschaffen. Er ist nicht nur einer der produktivsten Komponisten seiner Generation, sondern außerdem ein Enthusiast: einer, der sich rückhaltlos in seine Aufgaben wirft, der auch die große Geste, das Pathos nicht scheut und der stilistisch alles kann: vom romantischen Überschwang Schumanns über den Expressionismus und die Abgründe Mahlers bis zu den vielfältigen Idiomen der Nachkriegsavantgarde.

Das ist keine Allüre. Widmann lebt mit den Werken der Tradition in einem ständigen inneren Dialog. In seinen besten Werken - und von ihnen gibt es eine ganze Reihe - weiß er sich durch sein präzises Gespür für musikalische Form und seinen dezidierten Ausdruckswillen davor geschützt, in eine postmoderne Beliebigkeit der Mittel abzugleiten.

Große Schiffe schwanken auf hoher See bekanntlich weniger als kleine

Nahezu todesmutig hat sich Widmann also beim Anblick der Elbphilharmonie in die Fluten seiner überbordenden Fantasie gestürzt. Eine "Arche" sollte es werden, das stand für ihn gleich nach der ersten Besichtigung des großen Elbphilharmonie-Saales fest: das Konzerthaus als Refugium in einer von Terror-, Hass- und politischer Regression gefluteten Zeit. Der sakralen Aura, die er im Inneren dieser Weinbergarchitektur verspürte, wollte der Komponist ebenfalls in seinem Werk gerecht werden. Nebenbei sollten auch akustischen Eigenschaften des Saales möglichst variantenreich präsentiert werden. Und schließlich brauchte das Ganze eine Botschaft, die der symbolischen Fallhöhe des Ereignisses entspricht. Widmanns "Arche" hat all das im Überfluss - und gerade dies wird ihr am Ende auch zum Verhängnis.

Große Schiffe schwanken auf hoher See bekanntlich weniger als kleine, und so übertrifft Widmanns Orchesterbesetzung beinahe alles je Dagewesene: Zum enormen Streicherapparat des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg kommen vierfach besetzte Bläser, zwei Harfen, zwei Flügel, Celesta, Akkordeon, Glasharmonika und Orgel. Das von vier Spielern zu bedienende Schlagzeug lässt kein noch so exotisches Instrument aus. Drei Chöre verleihen dem Aufgebot optisch eine einschüchternde Wucht, und auch stimmlich gelingen dem Chor der Hamburgischen Staatsoper, der Audi Jugendchorakademie und den Hamburger Alsterspatzen durchdringende, ja überwältigende Wirkungen. Die Kinder Jonna Plathe und Baris Özden führen als Erzähler durch die fünf großen Teile des Oratoriums.

In einer von Widmann erstellten Textcollage aus Bibel- und Messtexten geht es um nichts Geringeres als um die gesamte Menschheitsgeschichte.

"Ich geh - wohin? Ich kam - woher?"

Diese führt von der Schöpfung "Fiat lux" über "Die Sintflut" und "Die Liebe" bis hin zum "Dies Irae" und zu einer ambivalenten Friedensbotschaft im "Dona nobis pacem" des fünften Teils. Verse von Klabund und Heinrich Heine, von Michelangelo und Matthias Claudius prallen hier auf Zitate von Nietzsche, Franz von Assisi und Peter Sloterdijk.

Insgesamt gibt die Partitur 15 verschiedene Textquellen an. Und auch musikalisch treibt Widmann in diesem Werk seine Vorliebe für historische Allusionen und Stilkopien auf die Spitze - bis der Chor nach dem Eifersuchtsmord im beinahe kabarettreifen dritten Teil des Menschheitsdramas sogar zu schunkeln beginnt. Das musikalische Leben entsteht nach dem Vorbild Haydns oder auch Alban Bergs aus einer diffusen Geräuschkulisse heraus, sekundiert von der Lichtregie im Saal.

Aus den Zuschauerreihen drängt sich der Bariton Thomas E. Bauer als erster Mensch ins Weltgeschehen: ein vagabundierender Operettenstar, der erst nach Léhar-Manier einen Walzer zu Heines "Das Fräulein stand am Meer" hinschmalzt und dann mit Klabunds "Der arme Kaspar" in eine traumverlorene Fin-de-Siècle-Sphäre abhebt. Die großen Menschheitsfragen trägt er dennoch auf den Lippen: "Ich geh - wohin? Ich kam - woher?" Die Sintflut tobt mit gewaltigem Orgelgebrause und wütenden Choralvariationen durch den Elbphilharmonie-Weinberg.

Wie detailliert und präzise man selbst in dieser Materialschlacht bis auf den Grund hören kann, das ist erstaunlich und sicherlich nicht nur dem Star-Akustiker Toyota, sondern vor allem auch dem Vermögen Kent Naganos am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters geschuldet. Noch frappierender an der gelegentlich auch etwas kalt wirkenden Akustik ist es freilich, dass der Klang nach den gewaltigsten Phonstärkeexzessen blitzartig und scheinbar ohne Nachhall wieder verschwindet. Die Solisten kommen nicht immer gut übers Orchester, wenn sie an der Rampe stehen. Umso betörender schweben jedoch die Sopranvokalisen durch den Saal, wenn Marlis Petersen als Turteltaube nach der "Sintflut" tirilierend von den obersten Rängen bis auf die Bühne herabsteigt.

Das Orff mit Strawinsky verschraubende, stark rhythmisierte "Dies Irae" ist der gelungenste Teil dieses doch arg auseinanderstrebenden, und auch in seiner Botschaft eigentümlich unentschlossenen Werks. Wie giftige Nebelschwaden kriechen die Chorstimmen aus den tiefen Registern chromatisch empor und münden in eine Steigerung, auf deren Höhepunkt Widmann zu Beethovens "Freude"-Melodie Zeilen aus einer vergessenen Frühfassung der Schillerschen Ode zitiert: "Allen Sündern soll vergeben, und die Hölle nicht mehr sein!" Nicht in Götter, sondern in euch selbst setzt Hoffnung, mahnen die Kinder. "Dona nobis pacem", schenk uns Frieden, flehen letztendlich aber doch alle apotheotisch miteinander: Mit Gott oder ohne, das darf sich an diesem Abend jeder aussuchen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: