Ein Abend für Dichtung:Jeden Tag neue Berge

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Seit dem Jahr 2000 wird auf Anregung der Unesco der Welttag der Poesie begangen, um die Mündlichkeit, Dichtung und die Vielfalt der Sprachen zu feiern. In diesem Jahr stand der lyrische Berliner Abend im Zeichen von Heimat und Flucht.

Von Hans-Peter Kunisch

Alice Miller, 1982 in Wellington, Neuseeland, geboren und dort aufgewachsen, lebt heute als Dichterin und Übersetzerin in Wien, kann sich aber gut vorstellen, nach Berlin zu ziehen. Das scheint für eine junge Autorin nicht unbedingt originell. Doch ihre Großeltern waren Berliner Juden, die ans andere Ende der Welt emigrierten, wie man zum Welttag der Poesie im Berliner Max-Liebermann-Haus erfuhr. Auf Anregung der Unesco wird der Tag seit 2000 jährlich begangen, um Dichtung, sprachliche Vielfalt, Mündlichkeit zu feiern.

Alice Miller "gräbt" in ihrem Gedicht "Körper" beim Wandern "jeden Tag neue Berge aus", findet jeden Abend neue, dunkle Wasser, testet sie mit der Fußspitze: "a quiet mirror opens".

Ganz anders wirken Poetik und Erfahrung, die hinter dem Langgedicht stehen, das der syrische Dichter und Flüchtling Aref Hamza vortrug. Während seine beiden Schulkinder im niedersächsischen Buchholz schnell Deutsch gelernt haben, lebt Hamza in der arabischen Sprache, versetzt sich in einem balladenhaften Gedicht zurück in die türkische Hafenstadt Mersin, die für viele Syrer der erste Anlaufpunkt ist. Hamza und seine Familie sind aus Al-Hasaka, im Nordosten Syriens, über den Landweg gekommen.

Aber sein lyrisches Ich blickt noch immer vom Hafen von Mersin hinaus aufs Meer, will die Toten dort draußen nicht vergessen, weiß, dass er nie "als Syrer" zurückkehren wird. Wenn überhaupt, wird es "als Flüchtling" geschehen, diese persönliche Erfahrung ist nicht revidierbar. Den gesamten Text des Gedichts kann man in dem Band "Hier sein - weg sein" nachlesen, in dem der Berliner Secession Verlag Gedichte von neunzehn geflüchteten Autoren aus Syrien, Iran und Jemen veröffentlicht hat.

"wo Nacktschnecken im Abwaschbecken herumkriechen,/ wo Geschirr zerbricht..."

Je ungehemmter weltweit das nationalistische Ressentiment zelebriert wird, desto wichtiger werden Veranstaltungen wie der Welttag der Poesie. Jeder Dichter liest im Original, dann wird die Übersetzung vorgetragen. Das ergibt ein schönes Ritual der Vielstimmigkeit, das an diesem Abend vom Englischen über das Arabische ins Mazedonische und Bulgarische führt. Manchmal sind einfache Metaphern die besten. Wie im Gedicht "Küchen" der 1962 in Sofia geborenen Mirela Ivanova, die fünf eigene Gedichtbände veröffentlicht und sich als Übersetzerin einen Namen gemacht hat. In "Küchen" trifft der Alltag auf Weltgeschichte: "Während ich erbittert Knoblauch zerstampfe im Mörser,/ um die Metastasen der Sehnsucht einzudämmen/ (...) während ich Zwiebeln schneide und weine,/ erinnere ich mich an alle die schrecklichen Küchen,/ all die historischen, fatalen Küchen,/ in denen die Falle stets unverhofft zuschnappt."

Küchen sind bei Mirela Ivanova dramatische Orte, "wo Nacktschnecken im Abwaschbecken herumkriechen,/ wo Geschirr zerbricht, wo es nach Mandeln riecht". In einer Küche in der Berliner Fasanenstraße versetzt sie sich in Leute, die fliehen wollen, und denkt an "die Petersburger Küche, wo der blutige Borschtsch/ gekocht wurde, der das Proletariat satt machen sollte/ oder die Berliner Küche, wo mein armes Vaterland/ von den Mächten zerschnitten wurde wie ein Kotelett".

Die Zeilen spielen auf den Berliner Kongress des Jahres 1878 an, auf dem der jahrzehntelange bulgarisch-serbische Kampf um Mazedonien durch für Bulgarien schmerzhafte Grenzziehungen befriedet werden sollte. Kleine Staaten haben ein gutes Gedächtnis. Schade, dass Ivanova, deren Gedichte auf Deutsch im Verlag "Das Wunderhorn" erschienen sind, an diesem Abend im Anschluss an den 1973 geborenen mazedonischen Autor Nikola Madzirov las, ohne dass sich auf Berliner Boden ein Dialog ergeben hätte.

Beide hätten sich wohl in ihren eigenen, ähnlichen Sprachen, gut verstanden. Madzirov, der wunderbar sanft und melodisch vortrug, bezeichnete sich als "Nachkomme von Flüchtlingen" und erinnerte in "Zuhause" an die Bilder einer einfachen Kindheit: "Einst lebte ich am Ende der Stadt (...) Das Spinnennetz hielt die Wände zusammen,/ der Schweiß unsere verbundenen Hände./ In den Metamorphosen der ungeschickt/ zusammengemauerten Steine versteckte ich/ den samtenen Teddy, um ihn vor dem Traum zu retten."

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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