Drama:Auf beiden Seiten der Mauer

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Der französische Film "Der Sohn der Anderen" erzählt vom Nahostkonflikt als Familiendrama.

Von Philipp Stadelmaier

Es war vor langer Zeit ein Mann namens Abraham, der zeugte zwei Söhne: Ismael und Isaak. Den ersten verstieß er, den zweiten behielt er; der erste wird Stammvater der Araber, der zweite eine zentrale Figur des Judentums. Araber und Juden: Beide sind in dieser Geschichte innig miteinander verbunden. Nun macht die französische Regisseurin Lorraine Lévy einen Film, in dem zwei junge Männer vor einem Spiegel in einer Wohnung Tel Aviv stehen, und der eine zum anderen sagt: Schau uns an, Isaak und Ismael. Wer von beiden wer ist, soll in diesem Moment keiner wissen.

"Der Sohn der Anderen" erzählt die Geschichte dieser beiden Männer und ihrer Familien - und der Verwirrung über ihre Identität. Da ist einmal eine jüdische Familie in Tel Aviv. Der Vater ist Oberst im Verteidigungsministerium, der Sohn Joseph (Jules Sitruk) will zum Wehrdienst. Nach einer Blutprobe kommt heraus, dass er nicht der genetische Sohn seiner Eltern ist und es bei der Geburt eine Verwechslung gab: Joseph ist in Wahrheit Araber. Seine richtigen Eltern, die im Westjordanland leben, haben wiederum ein jüdisches Kind großgezogen, den anderen "Sohn der Anderen". Sein Name ist Yacine (Mehdi Dehbi).

Gewiss lädt dieses Drehbuch zu Versöhnung und Frieden ein. Es gibt zunächst den üblichen Schock und die erwartbaren Animositäten zwischen beiden Seiten, dann Annäherung und symbolische Aussöhnung, wenn an der berüchtigten Mauer zwischen Israel und den Palästinensergebieten der israelische Obristen-Vater einem Mitglied der palästinensischen Familie die Hand reicht. Dennoch bleibt die Versöhnung sehr oberflächlich. Zunächst geht es weniger um das politische Problem zwischen Israel und Palästina als um "Juden" und "Araber". "Es gibt in der Genetik keine Ausnahmen" heißt es anfangs, wenn die Blutprobe die wahre Zugehörigkeit von Joseph aufdeckt, des in Israel sozialisierten, aber "genetisch arabischen" Jungen. In der Logik des Films mag zwar die Frage aufkommen, was mehr zählt: Genetik oder die Sozialisierung - aber das ist eine Scheinfrage, weil sie in beiden Fällen nur von substanziellen Identitäten ausgeht.

Der Film unterstreicht diese Trennung, indem er zwar auf beiden Seiten der Mauer spielt, aber doch recht subtil stets von einer auf die andere blickt. Er beginnt mit der Familie in Tel Aviv und bleibt lange bei ihr. Über die "Anderen" stolpert er erst später, und ihren Sohn Yacine lernen wir auch erst kennen, wenn wir schon wissen, dass er eigentlich Jude ist. Bei einer Fahrzeugkontrolle geht schließlich die Kamera mit israelischen Soldaten um ein Auto der Palästinenser herum und zwingt den Zuschauer damit auf die Seite des Militärs, während sie aus dem Wagen eine permanente Bedrohung macht.

Man hat den Eindruck, dass die Israelis hier immer einen kleinen Vorsprung an positiven Attributen haben, durch die Dramaturgie und die Perspektive, die der Film einnimmt. Joseph, der eigentliche Araber, wird als blasses Kerlchen gezeigt, der gerne Sänger werden will. Als er die Wahrheit über seine Herkunft erfährt, fragt er nur angstvoll: Bin ich immer noch Jude? Als gäbe es nichts Schlimmeres, keiner mehr zu sein. Keine sehr glückliche Figur. Während der Araber also ein ahnungsloser Künstler ist, wird das Begehren des Zuschauers ganz und gar auf Yacine gelenkt. Der ist ein schöner Junge, Arbeitstier und Frauenheld, der am Anfang aus Paris zurückkommt, wo er Medizin studieren will. Auf die Entdeckung seiner jüdischen Herkunft erwidert er ganz cool zu einem aufgebrachten Verwandten: "Ich bin der, der ich sein will, und nach meinem Studium in Paris komme ich zurück und wir bauen hier dieses Krankenhaus für Palästinenser." Wenn er an der Mauer entlangfährt, macht er den Eindruck eines Friedensbringers, der beide Seiten kennt und damit die Möglichkeit der Konfliktüberwindung. Das Fazit: Wehe dem Juden, der eigentlich ein Araber ist; der beste Araber ist aber - ein Jude.

Da auf diese Weise die Grenzen zwischen den ewig anderen bewahrt werden, Lévy den jüdischen Part für den Zuschauer deutlich attraktiver macht und dennoch eine Annäherung zeigen will, kann diese in dieser französischen Produktion nur über ein drittes Territorium kommen: über Frankreich. Yacine hat dort studiert, die Familie aus Tel Aviv kommt dorther. Dass Isaak und Ismael französisch sprechen, hilft ihren Völkern aber wohl kaum weiter.

Le Fils de l'autre , Frankreich 2012 - Regie: Lorraine Lévy. Kamera: Emmanuel Soyer. Mit Emmanuelle Devos, Jules Sitruk, Mehdi Dehbi, Areen Omari, Khalifa Natour. Filmkinotext, 105 Minuten.

© SZ vom 22.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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