Dokumentarliteratur:Der erste Kreis der Hölle

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Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg schildert in seinem Roman "Die Erwählten" die Verbrechen der Nationalsozialisten an Kindern in der Nervenheilanstalt "Am Steinhof" in Wien.

Von Cathrin Kahlweit

Adrian Ziegler wird nach seiner Einlieferung am Spiegelgrund erst einmal in Pavillon 9 untergebracht. Das ist gut, oder zumindest besser als Pavillon 15, denn dort wird gleich gemordet. In 9 wird beobachtet, vernachlässigt und gequält. Später erst, wenn Berlin den Daumen senkt, wenn der "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" die lebenden Toten zur Ermordung freigegeben hat und die Kinder vom Spiegelgrund durch Experimente und Folter geschwächt sind, sorgen die Ärzte in Abteilung 15 dafür, dass der oft künstlich herbeigeführte Krankheitsverlauf noch einmal mit Macht verschlechtert wird. Dann wird der Exitus herbeigeführt.

Euthanasie in der Nervenheilanstalt für Kinder, die sich auf dem Gelände des Klinikkomplexes "Am Steinhof" in den Ausläufern des Wienerwalds befand, war - so wie im gesamten Machtbereich der Nationalsozialisten - eine hochkomplexe Maschinerie aus Lüge, Zynismus und Gewalt. Eltern von "Idioten" und "Debilen" wurden mit einer sogenannten Schlechtmeldung über den Tod ihrer Kinder informiert, die erst abgeschickt wurde, wenn das Kind schon im Todeskampf lag. Eltern, die ihre Kinder besuchen, abholen, retten wollten, wurden abgewiesen.

Anne Maria Danner hieß dieses kleine Mädchen. Es starb im Pflegeheim am Spiegelgrund. (Foto: action press)

Zeile um Zeile, Seite um Seite legt sich das Geschilderte wie ein Eisenring um das Herz des Lesers

Der Schwede Steve Sem-Sandberg, der für dieses Opus magnum jahrelang in der österreichischen Hauptstadt gelebt und geforscht hat, setzt den Opfern dieser Mordmaschine in einer Mischung aus Roman und investigativer Recherche ein Denkmal. Die Doku-Fiktion "Die Erwählten" erzählt die Geschichte der Kinder vom Spiegelgrund wie auch die der Täter, die hier ihre realen Namen tragen. Der Text ist eindringlich, nie pathetisch - und doch schwer erträglich, wiewohl in seinen fiktionalen Teilen poetisch und einfühlsam.

Doch die dokumentarischen Grundlagen, die sich in kursiv gesetzten Originaltexten wie auch in der minutiös aufbereiteten Brutalität des Faktischen zeigen, legen sich Zeile um Zeile, Seite um Seite wie ein eiserner Ring um das Herz des Lesers. "Der Spiegelgrund war die letzte Station, die unterste Stufe der Treppe, wo nur die Verworfensten landen. Doch das wusste Adrian damals noch nicht", schreibt Sem-Sandberg. "Bei seiner Einlieferung sieht man einen offenbar vollkommen gesunden elfjährigen Jungen mit hochgezogenen Schultern, einem halb offenem Mund und erschrockenen Augen, dem kein Mensch etwas Böses zutrauen konnte".

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten. Roman. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 525 Seiten, 26,95 Euro. E-Book 21,99 Euro. (Foto: verlag)

Der Junge gerät an seinem ersten Tag am Spiegelgrund in den ersten Kreis der Hölle, weitere Kreise sollen folgen. Doch schon hier "dachte er, die Kinder dort drinnen würden einfach nur dasitzen und den Atem anhalten. Später sollte er denken, dass sie bereits tot waren und nur seinetwegen so taten, als lebten sie. Damit er nicht den Mut verlor." Ziegler hieß im wirklichen Leben Friedrich Zawrel und war eines der wenigen Kinder aus der Mordfabrik der Nazi-Ärzte in Wien, das mehrere Ausbruchversuche machte, überlebte - und tatsächlich nicht vollends den Mut verlor. Zawrel wurde zum Kronzeugen für das, was sich am Spiegelgrund getan hatte - und damit auch für die unfassbare Verdrängung und Ignoranz in der zweiten Republik, die dazu führen sollte, dass die österreichische Gesellschaft erst sechzig Jahre später, 2002, einen vorläufigen Schlusspunkt unter diesen Horror setzte.

Adrian Ziegler alias Zawrel nämlich begegnete als Erwachsener einem seiner Peiniger wieder, dem Arzt Heinrich Gross. Dieser hatte, wie viele andere NS-Ärzte auch, nach dem Krieg nicht nur unbehelligt in Wien Karriere gemacht, sondern auch weiter an jenen Leichenteilen geforscht, die er in seiner Zeit am Spiegelgrund in den Vierzigerjahren gesammelt und in Formalin aufbewahrt hatte. Gross war 1955 nicht nur wieder an derselben Klinik eingesetzt, obwohl das Euthanasie-Programm der Nazis längst bekannt war, sondern dort auch 1957 zum Chefarzt einer Psychiatrischen Abteilung gemacht worden. Noch Ende der Sechziger wurde dem viel beschäftigten Gerichtsgutachter ein eigenes Institut zur Erforschung von Missbildungen des Nervensystems eingerichtet. Zawrel begegnete ihm in einem Gerichtsprozess, in dem Gross ihn begutachten sollte. Der Spiegelgrund-Überlebende konfrontierte Gross mit dessen Vergangenheit, der daraufhin ein vernichtendes Gutachten schrieb. Zawrel kam ins Gefängnis. Erst zwanzig Jahre später, 1997, wurde Anklage gegen Gross erhoben. Leichenteile von fast 800 Kindern wurden im Keller der Anstalt, die heute Otto-Wagner-Spital heißt, gefunden. 2002 wurden die Opfer beigesetzt. Gross wurde nie verurteilt.

Sem-Sandberg hat schon mit einem anderen großen Roman aus der NS-Zeit, den "Elenden von Łódź" für viel Aufsehen gesorgt. Nun schildert er mit der Präzision eines Forschers, der Leid, Verzweiflung, aber auch Ratlosigkeit, Zwang und Gruppendruck beobachtet. Den Tätern nähert sich der Autor nicht mit Ekel oder Unverständnis, wie er überhaupt sorgsam darauf achtet, keine Urteile zu fällen. Stattdessen wechselt er regelmäßig die Erzählhaltung, betrachtet die Welt mal mit den Augen der Kinder, mal von oben herab, als auktorialer Erzähler, der erklärt, was kaum zu verstehen ist. "Töten kannst du nur in der Gruppe, denn wenn viele daran beteiligt sind, ist es kein Lebewesen mehr, das man tötet, sondern eine Bedrohung, die man bekämpft."

"Die Erwählten" endet nicht mit der Schließung vom Spiegelgrund, kann nicht damit enden. Friedrich Zawrel etwa ist erst 2015 gestorben. Heinrich Gross kam davon. Und doch: "Die Toten sterben nicht nur einmal", schreibt Sem-Sandberg. "Sie sterben in alle Ewigkeit."

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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