Digitales Leben:Im dunklen Wald

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg spricht über die Krypto-Währung "Libra"

Libra ist nur eins von vielen Projekten von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg.

(Foto: Justin Sullivan/AFP)

Immer mehr Menschen ziehen sich aus der Netzöffentlichkeit in digitale Privaträume zurück. Mit Folgen.

Von Johannes Kuhn

Die Zukunft ist privat", verkündete Facebook-Chef Mark Zuckerberg im Frühjahr auf der hauseigenen Entwicklerkonferenz F8. Damit enthüllte er kein Geheimnis, sondern beschrieb die Realität: Der öffentliche Teil der sozialen Medien verliert derzeit an Relevanz, Privatkanäle wie Whatsapp oder Messenger-Gruppenchats gewinnen an Bedeutung.

Das Phänomen ist unter dem Namen "Dark Social" bekannt. 2012 benutzte der Journalist Alexis Madrigal den Begriff, um zu veranschaulichen, dass für zwei Drittel der Klicks in den sozialen Medien nicht nachweisbar war, aus welcher Quelle sie stammten. Dieser Anteil ist in den vergangenen sieben Jahren noch einmal gewachsen. Einer Untersuchung der Firma "Get Social" zufolge werden inzwischen 78 Prozent aller Webseiten-Links über private Kanäle verschickt.

Neben den Links wandern offenbar auch die Debatten ins Private ab. "Immer mehr Menschen halten sich zurück und teilen ihre Inhalte und Gedanken mit einer kleinen Gruppe. Dort wissen sie, wie die anderen reagieren", sagt André van Loon von der Digital-Marktforschungsagentur "We Are Social". Social Media mag immer noch ein kommunikativer Experimentierraum sein, aber in der öffentlichen Diskursarena steht eben viel auf dem Spiel: das Nervenkostüm, die Privatsphäre, der eigene Ruf.

Soziale Medien sind in der digitalen Welt nicht die einzige Möglichkeit, zu diskutieren

Kein Wunder, dass neben privaten Nachrichten auch vergängliche Kurzvideos bei Snapchat und Instagram im Kurs steigen. Kickstarter-Mitgründer Yancey Strickler kritisierte diese Entwicklung kürzlich in einem viel beachteten Blogeintrag. Er verwendete dort das Bild des "dunklen Waldes", eine Metapher, die vom Märchen bis zur chinesischen Science-Fiction gerne verwendet wird. Ein Wald wirke in der Dunkelheit von außen still und unbewohnt, in Wahrheit aber sei er voller Aktivität. Nur finde die sich eben im Verborgenen, weil draußen die nachtaktiven Raubtiere lauern: Facebook-Diskursrowdies, andere Meinungen.

"Die Ära des Web 2.0 ist durch die Ära des Web² abgelöst worden", schreibt Strickler. "Ein Zeitalter, in dem wir in vielen verschiedenen Internet-Instanzen gleichzeitig leben, deren Zahl stündlich zunimmt. Die dunklen Wälder wachsen." Das ist für ihn ein beinahe zivilisatorisches Problem. Denn die Öffentlichkeit, die Facebook und Twitter herstellen, verliert durch den Rückzug der Netzbürger ins Private nicht automatisch an Bedeutung. Es erhalten schlicht andere Stimmen Gehör.

André van Loon erzählt in diesem Zusammenhang von einer aktuellen Fokusgruppe mit Muslimen. Die Teilnehmenden dort hätten ihm erklärt, sie meldeten sich nach islamistischen Terroranschlägen nicht mehr über Twitter oder Facebook zu Wort. Denn obwohl sie Empathie mit den Opfern zeigten, seien sie zu oft wegen ihrer Herkunft angegriffen worden. Ähnliches berichten Angehörige anderer Minderheiten, die für explizite politische Äußerungen mit Drohungen rechnen müssen. Den frei gewordenen Raum besetzen oft genau diejenigen, die andere zum Schweigen gebracht haben. Der Diskurs verschärft sich, weitere Teilnehmer wenden sich ab und geben zusätzliche Bandbreite für das Extreme frei. Strickler kommt deshalb zu dem Schluss: Wer seiner Bürgerpflicht nachkommen will, darf sich nicht in den dunklen Wald flüchten, sondern muss in der Öffentlichkeit sichtbar bleiben.

Die Politikwissenschaftlerin Marianne Kneuer sieht solche Forderungen skeptisch. "Jeder sollte frei entscheiden dürfen, wie er seine Freiheit nutzt", sagt sie im Gespräch mit der SZ. Sie vergleicht es mit dem Wahlrecht: "Es gibt immer das Argument, dass eine höhere Wahlbeteiligung besser ist. Aber das ignoriert etwas: dass die Entscheidung, nicht zu wählen, aus der Freiheit stammt." Kneuer verweist darauf, dass die Digitalisierung den Zugang zur Öffentlichkeit demokratisiert hat, aber eben keine völlig flache Kommunikationsstruktur hervorgebracht habe.

Alte Hierarchien seien zwar abgebaut worden, der Einfluss traditioneller Meinungsführer wie der klassischen Medien geschrumpft. Aber nun entstünden eben neue Rangordnungen. "Wer sind die neuen Meinungsführer? Influencer. Das kann jeder sein." In den kleinteiligen Sphären des dunklen Waldes wird deshalb nun ein Begriff relevant, der bereits seit gut anderthalb Jahren im Marketing die Runde macht: Der Micro-Influencer, der nur wenig Publikum hat, bei diesem aber als Autorität wahrgenommen wird. Der Altenpfleger, der in der Whatsapp-Gruppe von unerträglichen Arbeitsbedingungen erzählt. Die Bekannte, die mit seriösen oder verzerrenden Links die politische Stimmung im Freundeskreis beeinflusst. Die Schul-Clique, deren Instagram-Kommentare entscheiden, wer in der Klasse in oder out ist.

Social Media hat sich, entgegen der einstigen Prophezeiung von Facebook-Chef Zuckerberg, eben nicht zu einer einzigen öffentlichen Veranstaltung entwickelt. Stattdessen sind die neuen Kommunikationsformen so komplex geworden, wie unsere privaten Unterhaltungen schon immer waren.

Die Politikwissenschaftlerin Kneuer hält es zudem für unsinnig, einzig in die sozialen Medien zu blicken, um digitale Politik-Teilhabe zu entdecken. Partizipationsmöglichkeiten böten auch Online-Petitionen, lokale Software zur Meinungsbefragung wie die Bürger-App der Stadt Tübingen, aber auch Mischformen wie "Fridays for Future", die in der physischen Welt "verankert sind, aber online ihre Wirkung entfalten. "Partizipation online funktioniert", sagt Kneuer. "Die Frage ist, wo sie am besten funktioniert." Der dunkle Wald ist also alles andere als neu. Im Gegenteil. Die Balkanisierung der Internetöffentlichkeit erscheint fast als logischer Rückschritt, nachdem die Utopie der herrschaftsfreien Netzkommunikation nie Wirklichkeit wurde.

Der öffentliche Marktplatz existiert zwar weiterhin und bietet manchmal die Bühne, um große Ankündigungen zu machen. Die wirklich wichtigen Dinge werden aber schon vorher am digitalen Küchentisch besprochen.

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