Die Kanzlerjahre:Siebzig, verweht

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Auf dem Sprung in die ganz große Politik: Helmut Schmidt 1968, auf dem Kongress der Jungsozialisten in Frankfurt. (Foto: Roland Witschel/dpa)

Ölschock, RAF und Nachrüstung: Unsere Jahre mit Helmut Schmidt, der ein stark polarisiertes, ja zeitweise hysterisches Deutschland regierte.

Von Gustav Seibt

Die Jahre des Kanzlers Helmut Schmidt begannen mit den "Grenzen des Wachstums" - der Club of Rome erhielt für seine Studie 1973 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels -, mit dem Ölschock samt autofreien Sonntagen. Sie endeten mit den bis dahin größten Demonstrationen der deutschen Geschichte, die sich gegen die von Schmidt angestoßene Nachrüstung richteten. Ölschock und Raketenwinter rahmen die "bleierne Zeit" des westdeutschen Terrorismus, der mit einer Serie von Morden und Entführungen zwischen 1975 und 1977 einen blutigen Höhepunkt erreichte und das Land in eine Bürgerkriegsstimmung versetzte.

In der zeitdiagnostischen Debatte kursierten alarmistische Krisenbegriffe wie "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus" und "Unregierbarkeit", die von links und von rechts die Funktionsfähigkeit eines politischen Systems anzweifelten, das damals, vor der späteren Hochschätzung des Verfassungspatriotismus, durchaus höhnisch mit einem Kürzel bezeichnet wurde: FDGO, freiheitlich-demokratische Grundordnung. Der Hohn entstand, weil sich Anwärter auf den Staatsdienst seit 1972 regelmäßige Überprüfungen ihrer Verfassungstreue gefallen lassen mussten.

Das galt als "Überwachungsstaat" und "Gesinnungsterror". Wer abgelehnt wurde, sah sich einem "Berufsverbot" ausgesetzt. Im Kampf gegen den linksradikalen Terrorismus, der sich mit dem Kürzel RAF auf die Rote Armee Stalins und die Bomberflotten der Royal Airforce im Zweiten Weltkrieg berief, griff der Staat zu so hässlichen Maßnahmen wie "Rasterfahndung" und "Kontaktsperre". Gemeint waren generalisierter Verdacht mit Straßen- und Wohnungskontrollen sowie Behinderungen in der Kommunikation zwischen Untersuchungshäftlingen und ihren Anwälten.

Kein Zweifel also, Schmidt regierte ein hysterisches, stark polarisiertes Land. 1976 setzten die Unionsparteien ihren Wahlkampf unter das Zeichen von "Freiheit statt Sozialismus". 1980, als Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat war, konterten Schmidt und seine SPD mit dem Vorwurf autoritärer Unkontrolliertheit. In anthologischen Filmen wie "Deutschland im Herbst" und "Der Kandidat" zeigten Meisterregisseure wie Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder das depressive Bild eines Landes am Rande zur Diktatur.

Eine der wichtigsten Leistungen des Kanzlers Helmut Schmidt: Er ließ sich nicht verrückt machen

Dabei hatten die neuen sozialen Bewegungen, die sich für Umweltschutz, gegen Atomkraft, für Frauen- und Schwulenrechte einsetzten, längst zu einer Umsteuerung des Protests von Systemopposition zu alternativen Lebensformen geführt. Unter Helmut Schmidt, dem leitenden Angestellten der BRD (so beschrieb er sich selbst), wurde die deutsche Gesellschaft bunt. Die Pilzköpfe der Hippiezeit wuchsen zu wilden Haargebirgen, und Schmidt musste sich schon als Verteidigungsminister mit einem umstrittenen "Haarerlass" für die Bundeswehr an die neue Mode anpassen - dass sein eigener Scheitel dabei penibel blieb, verstand sich von selbst.

Man muss an den aufgeregten Zeithintergrund erinnern, um eine der wichtigsten Leistungen des Bundeskanzlers Schmidt zu würdigen: Er ließ sich nicht verrückt machen. Nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 sagte er: "Die Mörder wollen ein Gefühl der Ohnmacht erzeugen. Sie wollen die Organe des Grundgesetzes verleiten, sich von freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen abzukehren. Sie hoffen, dass ihre Gewalt eine bloß emotional gesteuerte, undifferenzierte, unkontrollierte Gegengewalt hervorbringe, damit sie unser Land als faschistische Diktatur denunzieren können. Diese Erwartungen werden sich nicht erfüllen. Der Rechtsstaat bleibt unverwundbar, solange er in uns lebt."

Das war in einer Kirche gesprochen, und es antwortete auch auf besorgte Anfragen von ausländischen Intellektuellen wie Alfred Grosser und Jean-Paul Sartre, die im bundesdeutschen Abwehrkampf gegen den Terrorismus totalitäre Gefahren erkannten. Es reagierte aber auch auf Versuchungen, den Terror mit kurzen Prozessen zu beantworten. Schmidts damals altmodisch anmutendes, kirchlich geprägtes Staatsethos bewährte sich in der Krise der Schleyer-Entführung und bei der Befreiung der Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu. Dass Schmidt fest blieb, war das eine; dass er glaubhaft unzynisch handelte, als er ein Menschenleben opferte und andere in Gefahr brachte, das andere, vielleicht wichtigere. Denn natürlich wusste Schmidt, dass er durch den Befehl, die Landshut zu stürmen, das Leben Hanns-Martin Schleyers aufs Spiel setzte. Eine Entscheidung ohne Schuld konnte es nicht geben. Wenige Tage später saß er beim Trauergottesdienst mit versteinerter Miene neben der Witwe und den Söhnen.

In der Epoche des auslaufenden politischen Radikalismus berief sich Schmidt, der anders als Willy Brandt Distanz zu den Schriftstellern des Landes hielt, auf Verantwortungsethik. Sie leitete ihn beim schwersten Kampf seiner Kanzlerschaft, der sicherheitspolitischen Grundentscheidung des von ihm angestoßenen Nato-Doppelbeschlusses von 1979.

Durch die deutschen Ostverträge und die Schlussakte von Helsinki war der Sowjetunion ihre mittelosteuropäische Vormachtstellung international garantiert worden. Da lag es nahe, auf dem Weg zu einer rein europäischen Sicherheitsordnung weiterzugehen, um die Blockkonfrontation, die Deutschland teilte, schrittweise aufzulösen. Das wollten Vordenker der Entspannungspolitik wie Egon Bahr.

In dieser Logik dachte allerdings auch die Sowjetunion, als sie sich Atomwaffen zulegte, die nur noch Westeuropa bedrohten. Der europäischen Friedensverlockung entsprach auf einmal auch eine innereuropäische Bedrohungslage. Es war Schmidt zu verdanken, dass die pazifistische Verlockung und die europäische Drohung die Nato nicht spalteten. Ihr von Schmidt formuliertes Angebot an die Sowjetunion lautete: Beiderseitiger Verzicht auf Mittelstreckenraketen oder westliche Nachrüstung, innerhalb von vier Jahren, bis 1983.

Um das durchzusetzen, musste sich Schmidt gegen eine Friedensbewegung bewähren, die zwei Jahre lang die Straßen und Plätze des Landes mit Hunderttausenden füllte und dabei neue expressive Protestformen wie Sitzblockaden, Menschen- und Lichterketten, Freiluftgottesdienste und sogar öffentlich nachgestellten Atomtod entwickelte. Der Weltweise Schmidt, den wir aus den vergangenen Jahrzehnten in Erinnerung haben, war am Ende seiner Kanzlerschaft kein allgemein beliebter Staatsmann; bei vielen war er geradezu verhasst. Sein Ton galt als schneidend, junge Parteigenossen wie Lafontaine sprachen von "Sekundärtugenden", mit denen man auch ein KZ betreiben könne.

Schmidts Primärtugend hieß Realpolitik. Als in der Raketenfrage eine neue Eiszeit drohte, hielt er weiter Kontakt mit Moskau und Ostberlin. Er wagte im Winter 1981 sogar einen Besuch in der DDR, der nicht nur freundliche Bilder mit Honecker aus Schloss Hubertusstock am Werbellinsee hervorbrachte, sondern auch die gespenstische Szenerie der von Einwohnern geräumten Stadt Güstrow, wo Schmidt, der Liebhaber des deutschen Expressionismus, Barlach-Skulpturen sehen wollte.

In denselben Tagen wurde in Polen das Kriegsrecht ausgerufen, um die katholische Arbeiterbewegung Solidarność zu bändigen. Besser so, als ein Einmarsch der Russen, befand Schmidt kühl. Den Menschenrechtsforderungen der Helsinki-Schlussakte, die später eine so zerstörerische Wirkung auf die Regime im Ostblock ausübten, schenkte Schmidt kaum Beachtung. Hier unterschätzte der Realpolitiker die Sprengkraft von Ideen.

Im Kampf um die Nachrüstungspolitik wurde Schmidt einsam in seiner Partei. Eine seiner besten Reden musste er 1983, schon nach seiner Kanzlerschaft, im Bundestag ohne Beifall halten. Da verteidigte er noch einmal den Doppelbeschluss und die Aufstellung der Pershing-Raketen, und dabei wandte er sich besonders an die jugendlichen Pazifisten außerhalb des Parlaments, deren Friedenssehnsucht der Weltkriegssoldat teilte. Schmidt, akkurat gekleidet wie immer, ohne das Gewicht eines Amtes, nachdenklich, fast leise sprechend, wirkte im großen Plenarsaal des bei seiner Rede meist schweigenden Bundestages auf einmal fast fragil; umso beeindruckender war die Entschiedenheit seiner Argumente.

Schmidts politisches Schicksal entschied sich allerdings nicht beim Kampf gegen den Terrorismus oder in der Sicherheitspolitik, sondern auf dem Feld der Ökonomie. Die Ölschocks von 1973 und 1978/79 hatten zu einer Vollbremsung des Nachkriegsaufschwungs geführt. Gleichzeitig hatten sie die Abhängigkeit der Exportnation Deutschland aufgezeigt. Die Zeiten heimischer Wirtschaftssteuerung schienen vorbei zu sein. Schmidt musste sparen und zugleich die deutsche Verantwortung als internationale Konjunkturlokomotive wahrnehmen. Er wurde zu einem zeitweise gefeierten "Weltökonomen", der mit Rambouillet und dem europäischen Währungssystem, der Einrichtung von Weltwirtschaftsgipfeln für Deutschland erstmals globale Aufgaben übernahm.

Schmidts Ansehen auf diesem Gebiet kontrastierte aber stark mit ausbleibenden Erfolgen im Inneren: In den späten Siebzigerjahren mussten sich die Deutschen an eine konstant hohe Sockelarbeitslosigkeit von fast fünf Prozent gewöhnen, und das bei erstaunlich hohen Inflationsraten. Schmidt verkündete, ihm sei höhere Inflation lieber als hohe Arbeitslosenzahlen, aber er bekam beides, und das hässliche Wort "Stagflation" bereicherte in den Jahren des "Waldsterbens" das Vokabular des gesellschaftlichen Pessimismus, der Schmidts Kanzlerschaft grundierte. In einem Land, das den Erfolg der Demokratie am wirtschaftlichen Wohlergehen maß, war das eine ungemütliche Erfahrung.

Der kühle Pragmatiker als prinzipientreuer Staatsmann: Schöner trat kein Kanzler zurück

Inzwischen hatten in England und Amerika neoliberale Revolutionen begonnen. Hier konnte Schmidt und wollte vor allem die SPD nicht mitziehen, und das wurde zum Grund seines Sturzes. Wie er ihn inszenierte, indem er die sich davonschleichende FDP des Verrats überführte, war noch einmal eine Meisterleistung des Taktikers Helmut Schmidt. Die dabei entfesselten Redeschlachten des Bundestags beendeten glanzvoll das Jahrzehnt der Polarisierungen, dem Schmidt mit so kühlem Verstand vorgesessen hatte.

Als Schmidt am 9. September 1982 seinen letzten "Bericht zur Lage der Nation" vortrug, wusste er, dass er für die Nachwelt sprach: "Politisches Handeln ergibt sich nicht schon ohne weiteres aus Moral, Ethik oder Theologie. Politisches pragmatisches Handeln bedeutet die vernunftgemäße Nutzung von Mitteln zu einem moralisch gerechtfertigten Ziel, und die Mittel dürfen auch nicht unmoralisch sein. Ich denke oft, dass Politik die Anwendung feststehender sittlicher Grundsätze auf wechselnde Situationen sein muss. Deshalb darf es kein pragmatisches, kein praktisches Handeln ohne die Pflicht, die Bindung an sittliche Grundsätze und Grundwerte geben."

Hier antwortete der Kant-Bewunderer auf den Vorwurf, er verkörpere nur Sekundärtugenden. Der Pragmatiker, der sich auch gern auf den liberalen Denker Karl Popper berief, zeigte sich, wie schon öfter in seinen letzten Regierungsjahren, als Mann von Prinzipien. Schöner trat kein Kanzler zurück.

Draußen im Lande hatte gerade die Party der Achtzigerjahre begonnen. "German Angst" wurde zum Punk, die neuen sozialen Bewegungen zum generalisierten Pop, während das Bürgertum sich Landhäuser in der Toskana kaufte und historische Bestseller verschlang. Die immer wählerischer werdende Öffentlichkeit trauerte dem Redner Helmut Schmidt nach, bis Richard von Weizsäcker sie von ihren Leiden an der Peinlichkeit Helmut Kohls erlöste. Erst in diesen Jahren wurde Schmidt zum Zeit-Orakel, viel später dann zu einem hanseatischen Konfuzius, der Sentenzen in die Welt entließ wie Rauchkringel.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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