Die Cassirers:Königliche Menschen

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Ein großer Name in der deutschen Kulturgeschichte des 20.Jahrhunderts. Philosophen und Verleger, eine Familie, deren Mitglieder Schönes, Gelehrtes, Interessantes sammelten: die Cassirers.

Von Jens Bisky

Statt die Scheidungsurkunde zu unterzeichnen, erschoss sich Paul Cassirer am 5. Januar 1926 in einer Berliner Anwaltskanzlei: "Nun bleibst du aber bei mir!", rief er seiner Frau zu, der Schauspielerin Tilla Durieux. Zwei Tage darauf starb er. Sein Selbstmord beschäftigte wochenlang die europäische Presse, auch in New York erschienen Berichte über den Tod des berühmten Verlegers und Kunsthändlers. Nachdem die Zeitungssensation von anderen verdrängt worden war, veröffentlichte das Hamburger Israelitische Familienblatt eine "soziologische Studie über die Familie Cassirer", die in Deutschland leider kaum ihresgleichen habe. "Der Stammvater der Familie saß in einem elenden Neste Oberschlesiens, Schwientochlowitz, als kleiner, frommer Handelsmann und quälte sich redlich, sieben Söhne und eine Tochter anständig zu erziehen." Er hatte begriffen, dass große Städte die besten Möglichkeiten boten. Seine Kinder nutzten sie: "Die Söhne, erst in Breslau, dann in Berlin, hatten klein im Holzhandel angefangen und waren mit Riesenschritten vorwärtsgestürmt, sie gründeten in Woclawec eine Cellulosefabrik und verstanden es, sie in kurzer Zeit zur ersten des Kontinents - nicht Deutschlands - zu machen. (. . .) Sie hatten die Hände in allen großen Bauunternehmungen der achtziger und neunziger Jahre (. . .) Ihr Reichtum wuchs in hohe und höher Millionenziffern. Als Menschen blieben sie schlicht und einfach. Zwar bauten sie sich herrliche Wohnungen und kauften gute Bilder, aber jedes Protzentum, alles Parvenuehafte blieb ihnen himmelfern."

Dem Namen Cassirer ist jeder, der sich für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, schon einmal begegnet: etwa dem Philosophen Ernst Cassirer (1874-1945) oder den Vettern Paul (1871 bis 1926) und Bruno Cassirer (1872-1941), die gemeinsam 1898 in Berlin eine Kunst- und Verlagsanstalt gründeten, sich später trennten und, jeder für sich, Schönes, Gelehrtes, Interessantes sammelten, förderten, verkauften. Paul Cassirer etwa mit der Pan-Presse, Bruno Cassirer mit der grandiosen Zeitschrift Kunst und Künstler. Wer nach den Schicksalen des Impressionismus in Deutschland fragt, die Leben von Max Liebermann, Lovis Corinth oder Max Slevogt Revue passieren lässt, stößt immer wieder auf Paul und Bruno Cassirer. Wer in die Geschichte der Reformpädagogik eintaucht, lernt Edith Cassirer (1885-1982) kennen, die gemeinsam mit ihrem Mann Paul Geheeb die Odenwaldschule gründete und über Jahrzehnte deren Geschäfte führte. Ihr Vater, Max Cassirer, finanzierte den Ausbau, half, wenn es wieder einmal knapp wurde. Der Kapellmeister Fritz Cassirer (1871-1926) warb mit Elan und dem Geld der Familie für den Komponisten Frederick Delius. Und da gab es noch Unternehmer, Ärzte, Naturwissenschaftler. Die große Familie Cassirer repräsentierte bürgerliche Kultur in ihrem ganzen Umfang, so wie man es sonst nur von den Mendelssohns kennt. Deren Geschichte ist früh aufgezeichnet worden, Sebastian Hensels "Die Familie Mendelssohn" wurde ein Bestseller im wilhelminischen Deutschland, ein Buch auch gegen den Antisemitismus der höheren Stände.

Es fehlt nicht an Aufzeichnungen einzelner Cassirers, an Studien und Editionen, aber die Familienbiografie ist bislang nur skizziert worden. Daher nimmt man das Buch von Sigrid Bauschinger mit freudiger Erregung in die Hand. Sie hat lange German Studies an der University of Massachusetts in Amherst gelehrt, eine Biografie Else Lasker-Schülers veröffentlicht, Archive durchforstet, eine Fülle von Dokumenten zusammengetragen. Kaum einer dürfte so viel über die Cassirers wissen wie sie. Aber ihr Buch ist eine einzige Enttäuschung. Hier wird nicht erzählt oder analysiert, sondern Detail an Detail gereiht - ohne Rücksicht auf Chronologie, Dramaturgie, Leser. Die Familien-Biografie zerfällt in eine Folge von sprunghaft berichteten Lebensläufen. Nur als Materialsammlung lässt sich diese Darstellung nutzen.

Diese Familie, heißt es, habe sich ausgezeichnet durch ihre Liebe zur deutschen Kultur, zu Kunst und Literatur, durch ein "soziales Bewusstsein" und einen ausgeprägten Familiensinn. Das ist gewiss richtig, ersetzt aber eine Frage, eine Perspektive nicht.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann die Zerstörung der Welt der Cassirers

Der Schriftsteller Max Tau, der ab 1928 Lektor des Bruno-Cassirer-Verlages war, schrieb einmal über Ernst Cassirer und dessen Frau Toni, man habe, wenn sie über die Straße gehen, "den Eindruck königlicher Menschen". Sigrid Bauschinger erklärt nicht, wie die besondere Atmosphäre der Familie entstand, sie annotiert Talente und Leistungen. Der Leser nutzt dieses Buch am besten wie einen Zettelkasten voller Archivfunde, Zitate, Hinweise. Es lassen sich darin viele Geschichten entdecken, die es wert sind, erzählt zu werden. Biografie und Lebensleistung von Ernst, Paul und Bruno Cassirer sind inzwischen in Werkausgaben, Verlags- und Sammlungsverzeichnissen dokumentiert. Viel zu wenig bekannt aber ist etwa eine noble Erscheinung wie Max Cassirer, der im Jahr 1857 noch in Schwientochlowitz geboren wurde, Medizin studierte und jung schon eine Holz-Export-Firma gründete. 1887 zog er nach Charlottenburg, das damals noch eine eigenständige Stadt war. Er muss eine eiserne Konstitution besessen haben, immer neue Aufgaben, Verpflichtungen lud er sich auf. Zur Leitung verschiedener Unternehmen kamen bald auch Aufgaben in der Charlottenburger Stadtverwaltung hinzu. 1909 wurde er Stadtrat. Einmal führten ihn seine Geschäfte nach Kiew, eine 48 Stunden lange Reise. Er blieb nur 4 Stunden, erledigte das Nötige, setzte sich wieder in den Zug und erschien nach weiteren 48 Stunden pünktlich zur Magistratssitzung.

In Wilmersdorf, in der Kaiserallee fand er nach langer Suche ein Haus für seine Familie. Selbstverständlich sammelte er Kunst, Max Liebermanns "Bauer mit Kuh" soll sein Lieblingsbild gewesen sein, Max Slevogt porträtierte ihn zum 50. Geburtstag, 1911 stiftete er seiner Stadt einen Brunnen des Tierbildhauers August Gaul, der "Entenbrunnen" steht heute vor dem Renaissancetheater. Und als seine Tochter Edith sich ins Reformpädagogische einlebte, Paul Geheeb heiratete, fuhr er immer wieder auf die Baustelle der Odenwaldschule und sah dort nach dem Rechten. Bis 1914 investierte er 550 000 Mark in das Schulprojekt.

Am 27. Juli 1938 schrieb Max Cassirer, der 1920 Ehrenbürger Charlottenburgs geworden war, einen langen Brief an den Berliner Polizeipräsidenten: "Ich habe das 80. Lebensjahr bereits überschritten. Während meines langen Lebens bin ich stets ein aufrichtiger und treuer Diener meines Vaterlandes gewesen. Den Grundsatz, dass Gemeinnutz dem Eigennutz vorauszugehen hat, habe ich von jeher zu dem meinigen gemacht." Nie sei er Kommunist oder Freimaurer gewesen, habe stets seine Staatsbürgerpflichten erfüllt. Er zitiert aus der Ehrenbürgerurkunde, zählt seine Verdienste und Leistungen auf. Sein Wunsch: "Ich möchte in dem Lande, in dem ich geboren bin, auch mein Leben beenden." Im November 1938 rettete er sich mit nichts als einem Regenschirm und einem kleinen Handkoffer in die Schweiz, 1943 starb er im Exil in Wales.

So verschieden die Cassirers waren, mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann die Zerstörung ihrer Welt. Sie wurden enteignet, bestohlen, ihre Sammlungen zerstreut, sie selbst ins Exil gezwungen. Diese Familiengeschichte behandelt auch die Lebensläufe derer, die noch in Deutschland geboren wurden und sich in den Ländern, in die sie sich retten konnten, ein neues Leben aufbauten: die "dritte Generation im Exil". Zu ihr gehörte Reinhold Cassirer, der 1954 die junge Schriftstellerin Nadine Gordimer heiratete.

Wahrscheinlich lässt sich die Vielfalt dieser großen Familie erzählerisch kaum bändigen. In Deutschland sind von ihnen nur wenige Spuren noch zu finden. Der Nachwelt, schließt Sigrid Bauschinger, sei es auch gelungen, die Odenwaldschule zu zerstören. So bleibe nur, an die Cassirers in einer Familienbiografie zu erinnern. Das ist ihr, trotz der vielen Schwächen des Buches, gelungen.

Sigrid Bauschinger: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie. Verlag C. H. Beck, München 2015. 464 Seiten, 41 Abb., 29,95 Euro.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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