Deutschland:Echt altdeutsch

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Christoph Ribbat hat die Biografie des Wilbert Olinde jr. recherchiert. Der schwarze Sportler kam in den 1970er Jahren als Basketballer nach Göttingen. Eine beispielhafte und brillante Geschichte über Integration und die Deutschen.

Von Moritz Behrendt

Wilbert Olinde war nie ein Mann für die große Show. Als Helmut Kohl ihn bittet, diesen einen Wurf zu zeigen, dessen Name ihm gerade nicht einfalle, fragt Olinde höflich, ob der Kanzler einen Freiwurf sehen möchte oder einen Korbleger. Kohl verneint. Da wird dem Sportler klar, dass er einen Dunking vorführen soll, diesen spektakulären Zug, bei dem der Ball mit Wucht von oben in den Korb geschmettert wird. Der Kanzler ist begeistert. Das war 1985, beim Kinderfest des Bundeskanzleramtes, mit dabei auch ein 17-jähriger Tennisspieler, der gerade das Turnier in Wimbledon gewonnen hatte.

Der Amerikanist und Kulturwissenschaftler Christoph Ribbat hat ein Gespür für Szenen - und für ihre politische und kulturhistorische Einordnung: Er erwähnt, dass der Dunking im US-amerikanischen College-Basketball bis vor Kurzem verboten war, wurde er doch als Ghetto-Move angesehen. Er berichtet auch von der restriktiven Ausländerpolitik der Regierung Kohl - 1983 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das Ausländer mit einer Prämie von 10 500 Mark zum Verlassen Deutschlands bewegen sollte.

Wilbert Olinde kam 1977 nach Göttingen, damals sagte man noch Neger zu ihm

Es ist diese Verknüpfung von Sport- und Zeitgeschichte, die "Deutschland für eine Saison" zu einem großen Wurf macht. Was Ribbat aus der Biografie des erfolgreichen, aber außerhalb von Göttingen nicht gerade weltberühmten Sportlers Wilbert Olinde herauskitzelt, ist schlicht phänomenal.

Olinde kam 1977 aus Los Angeles nach Deutschland, er war einer der ersten schwarzen Profi-Basketballer in der Bundesliga. Es ist das Jahr des Deutschen Herbstes, in Göttingen erscheint der berüchtigte Mescalero-Brief und das Landeskriminalamt teilt einer VWL-Studentin im ersten Semester mit, sie solle sich besser einen anderen Studienort suchen. Es gebe so viele RAF-Sympathisanten in der Stadt, ihre Sicherheit könne nicht mehr garantiert werden. Die Studentin ist Ursula Albrecht, Tochter des niedersächsischen Ministerpräsidenten und heute unter anderem Nachnamen geschäftsführende Noch-Bundesverteidigungsministerin.

Der junge Olinde, 22 Jahre alt und eher zurückhaltend, interessiert sich nicht besonders für Politik. Aber natürlich bekommt er den Zeitgeist mit. Immer wieder wird er auf den Vietnam-Krieg angesprochen und die Diskriminierung der Schwarzen in den USA. Mit Neugier, fast mit dem Blick eines Ethnologen nimmt er wahr, was alles anders ist in diesem Land als in seiner Heimat, im Alltag und im Sport. Der steht bei seinen Mitspielern nicht gerade im Mittelpunkt. Sie sind häufiger in der Kneipe "Zum Altdeutschen" anzutreffen als im Training. Ein Spieler hat jüngst den Verein verlassen, um mehr Zeit für die Arbeit in der DKP zu haben.

Einfühlsam und mit Sinn für Pointen spürt Ribbat dieser Zeit nach und entwirft ein lesenswertes kulturgeschichtliches Panorama, ohne dabei die Karriere seines Protagonisten aus dem Auge zu verlieren. In der ersten Saison läuft es nicht beim SSC Göttingen, nur knapp kann der Abstieg verhindert werden. Die Vereinsfunktionäre teilen dem Trainer mit: "Du kannst bleiben, aber der Neger muss weg." Letztlich bleiben beide - Olindes Gehalt wird von 1500 auf 1000 Mark gekürzt. Der Rest ist Basketball-Geschichte: 1980 gewinnen die Göttinger die Deutsche Meisterschaft, zwei weitere Titel und zwei Pokalsiege folgen, jetzt unter dem Namen ASC Göttingen. Gefeiert wird im Altdeutschen oder auch in der "Affenbar", so wird die Disco im Keller des Wohnheimes für Studenten aus Afrika und Asien genannt - ein Stammgast ist der damalige BWL-Student Dieter Bohlen.

Noch mehr historische Tiefe verschafft Ribbat seinem Buch durch den Blick in die USA. Er erforscht die Ursprünge des Namens Olinde in der Zeit der Sklaverei und er beschreibt die Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Als Wilbert 1955 in New Orleans geboren wird, gibt es dort noch separate Geburtsstationen für weiße und schwarze Frauen. Kurz nach der Geburt zieht die Familie nach Kalifornien. Wie so viele Afroamerikaner erhoffen sie sich den gesellschaftlichen Aufstieg - durch Bildung, harte Arbeit und die Migration in ein liberaleres Umfeld. Ribbat hat Archive durchforstet, mit Olinde, dessen Angehörigen und Weggefährten gesprochen - in den USA ebenso wie in Göttingen.

Die alte Stammkneipe "Zum Altdeutschen" heißt heute "ADe", die asbestverseuchte Sporthalle, in der die Basketballer ihre Erfolge gefeiert haben, wurde längst abgerissen. Dennoch ist Ribbats Buch keine nostalgische Angelegenheit, sondern höchst aktuell. Aus der einen Saison, die Olinde in Deutschland bleiben wollte, wurden 40 Jahre. Sein Sohn macht inzwischen seine ersten Schritte in der Basketball-Bundesliga. Olindes Biografie liest sich daher auch als erfolgreiche Integrationsgeschichte. Der Sport hat sicherlich geholfen. "Wer Basketball spielt, bleibt nicht lange allein", schreibt Ribbat.

Noch in einem weiteren Punkt verortet Ribbat sein Buch in einem aktuellen Diskurs. Im letzten Kapitel fragt er: Darf ich das als weißer Akademiker, die Lebensgeschichte eines schwarzen Sportlers aufschreiben? Die Überlegungen des Autors dazu sind reflektiert, zurückhaltend und auch zweifelnd. Sein Buch gibt eine klarere Antwort: Er darf nicht nur, er kann es auch.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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