Deutsches Erinnerungspanorama:Telefunken, Engelwurz

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In seinem autobiografischen Roman "Frohburg" erforscht Guntram Vesper die Geschichte und Mythologie seiner sächsischen Herkunftswelt und gerät dabei in die Vollmondnächte des Erzgebirges.

Von Helmut Böttiger

Bücher mit 1000 Seiten sind keine Seltenheit mehr, doch dies hier hat nichts mit den üblichen Textmassen zu tun, die mittels digitaler Techniken anschwellen. Guntram Vespers "Frohburg" stellt sich ganz anderen Vergleichen. Als Maßstab kommen nur einige länger zurückliegende Unterfangen in Betracht, Zeit- und Gesellschaftsromane mit epochalem Anspruch, etwa Uwe Johnsons "Jahrestage". Es geht um ein Lebenswerk, um etwas, das einen langen Atem braucht und zu einer Exkursion aufbricht, deren Ziel unbestimmt ist und auf jeden Fall waghalsig.

Vielleicht ist es aber auch charakteristisch, dass der Beginn den langen Atem gleich zu negieren scheint: "Möbel. Zimmerwände. Tür." Es fängt ganz klein an, es wird benannt und konstatiert, ein langsames Sich-Vortasten in die Erinnerung und die verschwundene Geschichte. Von der Wohnung geht es über das Haus und die Straße hin zu den Umrissen Frohburgs, einer Stadt mit ungefähr 5000 Einwohnern südlich von Leipzig, mit 15 Straßen und 500 Häusern. Sie wird minutiös eingebettet in die umgebende Landschaft, die mit vielen Wäldern markierte Grenze zwischen der sächsischen Braunkohle-Ebene und den Vorstufen des Erzgebirges, und diese Grenze ist auch eine zwischen Realität und Fiktion. Guntram Vesper verbrachte hier die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er mit seiner Familie 1957 über Berlin nach Westdeutschland floh.

Das Buch hat viele Aspekte einer Autobiografie, ohne eine Autobiografie zu sein. Denn neben dem Ich, das hier schreibt und sich beim Schreiben auch immer wieder zuschaut, tritt jene magische Konfiguration "Frohburg" in den Mittelpunkt und verselbständigt und verästelt sich. Augenzwinkernd zitiert Vesper in seinem Motto Fontane: "Für etwaige Zweifler also sei es Roman!" Der zeitgenössische Roman ist die Form, die alles in sich aufsaugen kann, Tagebuch, Essay, Analyse und schwadronierendes Erzählen gleichermaßen. Die Fiktion ist nicht mehr Bedingung. Spannend ist aber jedes Mal der Moment, in dem sich das Ganze unmerklich doch ins Fiktive hinüberbewegt.

"Frohburg" wird zu einem Signum für Heimatlosigkeit und zum Fluchtpunkt der Literatur. Der Fluss Wyhra erscheint, die Tümpel und Milchwiesen, das Geburtshaus in der Greifenhainer Straße mit der Tierarztpraxis des Großvaters, der Marktplatz mit seinen Häusern und Läden - die Topografie ist die Grundlage für den Schreibvorgang. Immer wieder geraten neue Nebenfiguren und Seiteneingänge in den Blick. Die 1000 Druckseiten dieses Buches bilden ein Kontinuum, einen einzigen Bewusstseinsstrom. Obwohl sie nicht in einzelne Kapitel aufgeteilt sind, gibt es immer wieder Stromschnellen, die etwas Neues ankündigen, der Erzählfluss lebt von einzelnen Assoziationsknäueln. Der Autor Guntram Vesper verbindet seine Gegenwart mit derjenigen der Eltern- und Großelterngeneration durch konkrete Motive. Hier verläuft die Zeit nicht linear.

Einmal referiert Vesper die unerhörte Racheaktion der sowjetischen Besatzer im Dorf Küllstedt, direkt nach dem Krieg: 36 Verhaftungen und 7 Todesurteile, nur weil die Bauern ein paar Diebe verprügelten, die sie für polnische Fremdarbeiter hielten. Doch leider waren es russische Offiziere. Die Todesurteile wurden sofort an der Friedhofsmauer vollstreckt, tausend Anwohner mussten zuschauen. Am Abend lief dafür im Dorfkino ein Musikfilm, in dem Will Quadflieg auftrat, und dieser Akteur löst in Guntram Vesper selbst etwas aus. 1958, ein Jahr nach der Flucht aus Frohburg, lässt er sich von seinen Eltern eine Schallplatte aus der Reihe "Wort und Stimmen" von Telefunken zu Weihnachten schenken: Will Quadflieg liest Rainer Maria Rilke. Anlass dafür ist der schwarzrot gestreifte Kofferplattenspieler von Quelle, den der junge Vesper sich gerade zugelegt hat, und das lässt wiederum die Zeit als Internatsschüler in Friedberg wiederaufleben: Im Burggarten auf der Freilichtbühne rezitierte er im Stile Quadfliegs Rilke, und auf einem entlegenen Bänkchen jenes Gartens, das er regelmäßig aufsuchte, traf er einmal unversehens seine zukünftige Frau Heidrun an.

Im Stile Will Quadfliegs zitiert der Internatsschüler Gedichte von Rainer Maria Rilke

Im Sommer 2012 stößt Vesper plötzlich wieder auf den längst vergessenen Kofferplattenspieler. Sein Bruder ist gestorben, und beim Aufräumen in dessen Wohnung findet er viele vergessene Gegenstände, die etliche Momente der Familiengeschichte evozieren. Zum Schluss gräbt er unter verschimmelnden Bücherschichten auch den alten Plattenspieler wieder aus.

Dieser rhizomartigen Struktur folgt alles, was in und um "Frohburg" herum passiert. Es gibt dichtere und weniger dichte Passagen, aber oft entsteht ein starker Sog. Obwohl der größte Teil recht lange zurückliegende Zeiten heraufbeschwört, ist dies beileibe kein "historischer Roman" - dazu ist der Erzähler zu sehr involviert. Am stärksten tritt er mit seiner bibliophilen Obsession in Erscheinung. Antiquariate sind für ihn offenkundig Pilgerstätten, speziellen Ausgaben wird mit großem Aufwand nachgeforscht, der sächsische Weltdarsteller Karl May spielt dabei die Rolle eines Leitmotivs. Die Widersprüchlichkeit dieser Person ragt im Partikelgestöber des "Frohburg"-Textes heraus, und nicht von ungefähr fungiert May als ein "Plauderer, den ein Satz in den anderen riss, ein Thema in das andere stürzte".

Auch in "Frohburg" bergen einzelne Handlungsstränge ganze Romane in sich. Das nahe Erzgebirge, mit seinen Wunderheilern und seiner Trance zwischen Engelwurz und Vollmondnächten, löst prägnante Bilder und Sprachschübe aus. Der romantische Ausflug von Vater und Mutter 1937 in die grenznahe "Dreckschänke" auf der tschechischen Seite gehört zu den schönsten Passagen des Romans. Es ist aber kein Zufall, dass sie dunkel grundiert wird von dem Volkssänger Anton Günther, dem sie gebannt zuhören - drei Tage später bringt er sich um und verkörpert die bevorstehende historische Katastrophe.

Guntram Vesper, geboren 1941 im sächsischen Frohburg, kam 1957 aus der DDR in die Bundesrepublik und lebt heute in Göttingen. (Foto: Volker Poland/dpa)

Einmal kommt es programmatisch zu einer "Nacht der großen Erzählung". Anfang der Fünfzigerjahre sitzen Vespers Vater und der Korbmacher Schlingeschön aus dem Dachgeschoss zusammen und erzählen sich ihre Geschichten. Dabei verschränken sich vielfach die Zeiten: Schlingeschön ruft die Dreißiger- und Vierzigerjahre wach, als auf den unwegsamen Gebirgspfaden Kommunisten nach Tschechien flohen und illegal wieder einsickerten, während Wolfram Vesper, der Arzt, seine Erfahrungen in den frühen Jahren der DDR beschreibt.

Undurchsichtige Figuren wie "Wehefritz", deren Rolle zwischen Untergrundaktivität, Geisterbeschwörung und Hexenmeisterei wechselt, sind ebenso suggestiv wie die Szene, in der die frühen Leipziger Professoren Ernst Bloch und Hans Mayer im Antiquariat um die Protokolle der Moskauer Schauprozesse konkurrieren. Manche Geschichten haben den Charakter einer Parabel, manche die eines Bauernschwanks. Derart farbenreich ist das deutsche Milieu im Laufe der Jahrzehnte selten dargestellt worden, zumal in dieser offenen Form. "Das Feld konnte wegen der unendlichen Verästelungen, Verzweigungen und Verflechtungen, der vielen Verdeckungen und Verschüttungen nicht größer sein", heißt es einmal bei Thüringer Mett mit Ei und Zwiebeln, wenn die charismatische rothaarige Jutta zum Thema wird.

Der Hauptdarsteller ist in diesem Roman unzweifelhaft die Literatur selbst

Es geht immer weiter. Kreuzottern bilden einen Motivkomplex, untergründig werden Netze ausgelegt, in denen Sexualität und Schlangen zusammenkommen, und ein typischer DDR-Urlaub mit FKK und Zelt-Derbheit am Darß bekommt ein schwüles, dumpfes Eigenleben. Guntram Vesper erweist selbstverständlich Uwe Johnson und Peter Weiss seine Referenz, ein signiertes Exemplar von Günter Eich zieht unabsehbare Kreise, und Walter Kempowski geht reichlich geknickt am Bühnenrand ab. Erich Loest indes bekommt über Dutzende Seiten hinweg, im Gespräch mit zwei linientreuen Frohburger Funktionären anlässlich seines Debüts "Die Westmark fällt weiter", einen grandiosen Auftritt. Die Zeit wird zu einem Prisma, sie wird kristallin. Während dem sinnlichen, prallen Erzählen gehuldigt wird und ein deftiger Realismus fein ziselierten Gedankenmustern die Waage hält, ist der Hauptdarsteller in diesem Roman unverkennbar die Literatur selbst. Das Codewort dafür, das gelegentlich eingestreut wird, heißt "Zimelien". Frohburg gehört jetzt endgültig dazu.

Guntram Vesper: Frohburg. Roman. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016. 1008 Seiten, 34 Euro. E-Book 24,99 Euro. Begleitend zum Roman ist ein Materialienband als Gratis-E-Book erschienen.

© SZ vom 15.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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