Deutscher Alltag:Septembertraum

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Der Sommer geht zu Ende. Man hat wieder Zeit zum Nachdenken. Da bemerkt man, wie unterschiedlich die Menschen ticken. Mofas oder rote Hosen können den Lauf der Dinge aber nicht aufhalten.

Kurt Kister

Es ist September. Zwei Drittel des Jahres sind schon wieder vorbei, und man weiß nicht so genau, wo sie hingekommen sind. Man könnte jetzt wieder über dieses Phänomen philosophieren, dass die Zeit schneller zu vergehen scheint, wenn man älter wird, wohl wissend, dass dies nicht sein kann, denn der 14-Jährige, der - Mofa fahren! - nicht schnell genug 15 werden kann, lebt in derselben Zeit wie der 55-Jährige, der genau spürt, dass er übermorgen in drei Monaten eigentlich schon 60 sein wird und ihm nichts dagegen hilft, nicht einmal, dass er immer noch Cream hört.

Ist es noch zu früh, um schon an Herbst zu denken? (Foto: dpa)

Natürlich sind 60-Jährige, zumal die SZ-Leser unter ihnen, heute so vital, wie es früher die 55-Jährigen waren, und wenn man ihre Klamotten ansieht, besonders jene, die sie am Wochenende tragen, dann könnte man sie glatt für 48 halten, was nur für Herrn Schulz mit seinen roten Hosen nicht gilt.

Angesichts der Tatsache allerdings, dass so viele Menschen dieselbe Zeit so unterschiedlich empfinden, könnte man auch denken, dass es keineswegs eine Zeit ist, in der wir leben, sondern dass sich Zeit zu einem je bestimmten Zeitpunkt aus vielen individuellen Zeitsträngen zusammensetzt, die sich dann jederzeit, zum Beispiel auch am Dienstag um 14.34 Uhr, zu einem Zeitstrom bündeln.

Das würde bedeuten, dass der 14-Jährige zwar im selben Bündel, aber auf einem anderen Strang lebt als der 55-Jährige. Und es würde auch erklären, warum die Frau behauptet, der Mann sei erst um drei Uhr früh nach Hause gekommen, wohingegen der Mann selbst genau weiß, dass es 23 Uhr war. Dasselbe Zeitbündel, unterschiedliche Stränge.

Der September jedenfalls ist ein Monat, in dem sich besonders dicke Zeitstränge drängen. Der Winter naht, das Ende dieser Kolumne steht bevor. In Berlin werden sie den Wowereit wiederwählen, der dort so populär ist wie Christian Ude in München, ohne dass die beiden allerdings mehr verbinden würde, als dass Wowereit keinen Schnurrbart hat. Gleichzeitig, wenn auch auf einem anderen Zeitstrang, wird es bestimmt wieder eine Währungskrise geben. Gefährlich könnte es werden, wenn die jetzt aktuelle Schuldenkrise sich mit der dann neuen Septemberwährungskrise auf einem gemeinsamen Zeitstrang bündelt.

Man müsste die Zeiten harmonisieren

Wie schön wäre es, wenn jemand eine Möglichkeit erfände, das Zeitbündel in die es konstituierenden Einzelfäden zu zerlegen. Man könnte dann vielleicht sogar seine eigene Zeit mit einer anderen Zeit harmonisieren, die man heute für abgelaufen hält. Es ließe sich im Sinne des Wortes anknüpfen an Vergangenes und möglicherweise könnte man vermeintlich Unwiederbringliches doch noch einmal erhaschen. Ein schöner Septembertraum.

© SZ vom 03.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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