Deutscher Alltag:Alle noch da?

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Wieder einmal im Bundestag: Die Kanzlerin wirkt noch knittriger als früher, dabei hat sie auch vor vier Jahren schon ausdauernd miesepetrig dreinschauen können. Gab schließlich nicht sehr viele Anlässe, unmiesepetrig zu sein.

Kurt Kister

Wieder einmal in Berlin, sogar im Bundestag. Von der Pressetribüne aus sieht man Leute, die man kennt, manche, die man nicht mehr zu sehen gehofft hatte und andere, die man noch nie gesehen hat. Auf der Regierungsbank sitzen schon von der dritten Reihe an Frauen und Männer, die mutmaßlich Staatssekretäre sind oder jedenfalls so aussehen, dass die Saaldiener, und vielleicht sogar die Kanzlerin, sie für aufstrebende CDU-Frauen oder wuselige FDP-Jungmänner hält, obwohl sie vielleicht in Wirklichkeit nur für RWE oder den Bundesverband Ungerechtfertigter Gesetzesbeeinflussung arbeiten.

Man hat den Eindruck, Merkels Mundwinkelfalten hätten sich so tief eingegraben, dass man von einem Doppelwadi an ihrer Kinnpartie sprechen kann. Ein Wadi, dies für alle Sarrazin-Fans, ist ein trockenes Flusstal, gerne in der arabischen Wüste. Die Muslime sind also schon dabei, das Gesicht der Kanzlerin zu hijacken. (Foto: dpa)

Die Kanzlerin wirkt knittriger als früher. Sie hat auch vor drei, vier Jahren schon ausdauernd miesepetrig dreinschauen können, weil es schließlich nicht sehr viel Anlässe gibt, unmiesepetrig zu sein. Trotzdem hat man den Eindruck, die Mundwinkelfalten hätten sich jetzt so tief eingegraben, dass man von einem Doppelwadi an ihrer Kinnpartie sprechen kann. Ein Wadi, dies für alle Sarrazin-Fans, ist ein trockenes Flusstal, gerne in der arabischen Wüste. Die Muslime sind also schon dabei, das Gesicht der Kanzlerin zu hijacken. Und das nicht einmal in Neukölln, sondern am helllichten Tag auf der Regierungsbank.

Guido, der Westerwelle bleibt nur kurz bei der Debatte. Dann muss er fort, und es kommt für ihn sein Staatsminister Werner Hoyer, zwar vollbärtig, aber durchaus kompetent. Er würde nie davon reden, dass er kein Tourist in kurzen Hosen sei. Ein paar Plätze weiter sitzt statt der FDP-Justizministerin ihr Staatssekretär Max Stadler, ein aufrechter Bayer. Der beiden Herren ansichtig, philosophiert man, wie es wohl wäre, wenn sich in der FDP eher die und weniger die anderen durchgesetzt hätten. Es wäre ein bisschen langweiliger, aber gediegener, und möglicherweise stünde die FDP jetzt nicht bei fünf, sondern bei zehn Prozent. Vielleicht wüsste man dann auch, wie eine bürgerliche Koalition funktionieren könnte. Heute weiß man in erster Linie, wie sie nicht funktionieren kann.

Nach einer Stunde verlässt man den Reichstag wieder und strebt der Brücke zu, am Kanzleramt vorbei. Drüben, in der Niederung vor dem Hauptbahnhof ist 1945 Martin Bormann gestorben. Der Beton des Kanzleramts sieht mittlerweile schmutzig aus, hässliche Schlieren laufen die Wände herunter. Zehn Jahre ist es erst her, dass Kanzler Schröder und sein Ego zu zweit das Büro im neuen Gebäude bezogen. Man stand damals in seinem Amtszimmer, und er machte eine weit ausholende Geste: Dies alles ist mir untertänig. Es schien etwas Neues zu werden in Berlin, und man glaubte, gar nicht schnell genug leben zu können. Jetzt wäre mal eine Fassadenreinigung nötig.

© SZ am Wochenende vom 9.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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