Deutsche Literatur:Sven und Marylin

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Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2015. 219 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: N/A)

In ihrem neuen Roman "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" schickt Judith Kuckart ihre Figuren durch einen Parcours aus Unglück und größeren und kleineren Katastrophen. Das Kino ist immer dabei.

Von Meike Feßmann

Mit der Wange auf den Knien am Bordsteinrand sitzen, während in der Sommerhitze eines Sonntagnachmittags die Zeit verdampft, Kettenkarussell fahren in Begleitung eines Erwachsenen, der im Flug Geborgenheit schenkt: Bilder kindlichen Glücks durchziehen den neuen Roman von Judith Kuckart. "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" ist ein Bilder- und Figurenreigen, dessen Hauptpersonen nur locker miteinander verbunden sind. Auch wenn solche "Short Cuts" formal nicht mehr neu sind - seit Robert Altmans Verfilmung der Shortstorys von Raymond Carver kommen sie auch in der deutschen Literatur ziemlich häufig vor -, erfüllen sie doch ihren Zweck.

Alles wirkt zufällig und absichtslos, obwohl die Autorin viel konstruiert haben muss, um die Figuren zusammenzuführen. Wie ein Kopfkino aus verschiedenen Filmen hat sie ihren Roman gebaut. Dass er dennoch nicht disparat wirkt, liegt am starken Fluidum seiner Atmosphäre. Etwas Verwischtes, Sehnsüchtiges, Schlaf-trunkenes umgibt die Figuren, auch wenn sie noch so unterschiedlich sind.

Kindliches Glück auf der einen Seite, Kinderlosigkeit auf der anderen, das sind die Pole, die dem Roman seine innere Spannung geben. Die weiblichen Hauptfiguren sind davon geprägt, dass sie keine Kinder haben. Es ist das, was sie verbergen wollen, das, wofür sie sich schämen, das, was so fest in ihrem Unbewussten sitzt, dass es selbst nach einem Hirnschlag das erste ist, was ihnen einfällt, auch wenn sie den eigenen Mann nicht mehr erkennen: "Scheiß Kinderlosigkeit", flucht Wanda, als sie aus dem Koma erwacht. Vor Jahren ist sie von Dresden nach Berlin gezogen, sie arbeitet in einer Charlottenburger Bäckerei und betreut einen Jungen als Ersatz-Oma. Dort trifft sie auf Katharina. Sie war Schauspielerin in Basel und schlägt sich nun mit Gelegenheitsjobs durch. Mühelos erfindet sie Geschichten über eine zehnjährige Tochter namens Ronja, "sobald sie sich vor Gott, der Welt und sich selbst wegen ihrer Kinderlosigkeit schämte".

In der ersten von insgesamt elf Episoden befreit sie einen achtzehnjährigen Stu-denten von seiner Jungfräulichkeit. Danach schafft es Leonhard, endlich von zu Hause auszuziehen. Seine Familie wohnt in derselben Bungalowsiedlung in Stuttgart-Frauenkopf wie Katharinas Schwester Bea, eine arbeitslose Grafikerin, die sich mit ihrem Mann, dem Polizisten Sven, das Haus in der wohlhabenden Gegend nur wegen einer Erbschaft leisten kann. Das kleinste Zimmer haben sie für ein Kind reserviert, das einfach nicht kommt.

Zwischen Stuttgart, Dresden und Berlin spannt Kuckart die Fäden der Handlung. So zieht Joseph, Beas und Leonhards Klavierlehrer, von Stuttgart nach Dresden, ausgerechnet in das Haus, in dem auch der erste Mann von Wanda lebt, der älteren Frau mit dem Hirnschlag. Und dieser Albert Abraham landet sogar zufällig zur gleichen Zeit wie sie im gleichen Berliner Krankenhaus, weil man seine Adresse bei Joseph fand, der nach einem Motorradunfall schwer verletzt dort eingeliefert wurde. Jenny, seine Freundin, ist gefahren. Die dreiunddreißigjährige Friseuse kam bei dem Unfall ums Leben, kurz nachdem sie sich entschlossen hatte, Joseph zu verlassen, weil sie Kinder wollte.

Die Bildwelt des Romans ist stark von Kino und Theater geprägt, etwa von Anspielungen auf Carol Reeds "Der dritte Mann", Hitchcocks "Fenster zum Hof", auf Filme von Tarkowski oder Jim Jarmusch. Die Protagonisten werden gern mit Schauspielern verglichen. Katharina haben wir uns wie eine jüngere Version von Tilda Swinton vorzustellen, Joseph als Mischung aus Horst Buchholz und Anthony Perkins. Die Handlung dient dazu, starke Bilder zu erzeugen. Oft zwischen Traum und Albtraum angesiedelt, umfasst ihre Stimmung eine Bandbreite von Else Lasker-Schülers "Wupper" bis zu den Filmen eines David Lynch.

Das Unglück geschieht wie nebenbei, etwa wenn Sven, dem Polizisten, während einer Stammtisch-Runde dämmert, dass sich hinter dem grausigen Fund einer Brandtoten, von dem die Kollegen erzählen, seine Geliebte verbirgt. Sie trank zuviel, rauchte zuviel, aber sie hatte einen Namen, der ihn anzog: Marilyn. Manchmal wird das Vage dann doch prätentiös und das Sehnsuchtsvolle kitschig in diesem Roman, in dem Belgien die grundsätzliche Bedrohtheit des Glücks verkörpert. Für Viktor, den Vertriebsleiter eines juristischen Verlags, der einmal Schriftsteller werden wollte, ist das Glück ein "gläserner Gast". Als Kind huschte er an einem Sommertag von der Eifel über die grüne Grenze nach Belgien. Das Mädchen, das ihn begleitete, hat sich als erwachsene Frau unter einen Zug gelegt, der nach Belgien fuhr.

Die Unglücksfälle und Katastrophen, die in diesem Roman zuhauf geschehen, kann der Leser ungerührt an sich vorüberziehen lassen: wie Kinobilder, die er längst kennt. Anders verhält es sich mit der Spur von Verletzlichkeit, die den Roman durchzieht. "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" erzählt vom Schmerz der Kinderlosigkeit, von der Verblüffung, wie hartnäckig er sein kann und wie schwierig es ist, ihn zu verbergen. Als Schutzmantel des Themas leuchtet die Ästhetik des Vagen durchaus ein.

© SZ vom 02.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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