Deutsche Literatur:"Seid alle brav und froh." Die Briefe der Manns

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Familienroman, Epochenbild und Sprachfeuerwerk: Die Korrespondenz der "amazing family" Mann, bisher teils unveröffentlicht, ist ein Hauskonzert in faszinierend gemischter Besetzung.

Von Hans Pleschinski

Nun sind sie alle vereint im erregten Austausch. Und das Familienoberhaupt, Thomas Mann, benennt in einem Brief an seinen Sohn Klaus das Grundmotiv des Miteinanders: "So wäscht eine Hand die andere, und Eltern und Kinder helfen einander durchs Leben."

Dank aufwendiger Recherchen, glückhafter Funde und dann der feinen Zusammenstellung von knapp zweihundert der ungefähr zweitausend überlieferten Briefe können wir nun eintauchen in das postalische Konzert, das die Familie Mann - Katia, Thomas und ihre sechs Kinder - durch Jahrzehnte und über die Kontinente hinweg miteinander veranstalteten.

Diese Schreiben der Gatten, zwischen Kindern und Eltern und der Geschwister untereinander nehmen den Leser nicht nur mit auf eine Zeitreise. Trotz der Weltbekanntheit der Großfamilie enthüllen die Schreiben aus dem Allgäu von 1920 oder von 1964 aus Capri auch wenig geläufige Facetten der "amazing family", wie der britische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson die Familie Mann bleibend bezeichnete.

Im Mittelpunkt des Austauschs steht die Gattin und Mutter Katia, die alles zusammenhält

Wo beginnt man mit einer Charakterisierung dieses intensiven Postverkehrs und seiner markanten Adressaten und Absender? Man kann sich die Manns zum Beispiel als Orchester vorstellen: Die Eltern geben als Basso continuo den Rhythmus vor und grundieren das unkonventionelle Konzert. Nicht selten setzen Erika und Klaus Mann schrill mit Querflöte oder mit der Pauke ein. Golo Mann, das dritte Kind, bläst die Posaune der Rechtschaffenheit und Bildung. Die weniger geliebten Geschwister Michael und Monika klagen im Hintergrund auf der Bratsche, während die jüngste Tochter, die liebreiche Elisabeth, wie mit Violinenklang entzückt: "Danke für Brief und Check. 63 Dollars waren genau das richtige."

Im Mittelpunkt des Austauschs steht gewiss Katia Mann. Die Gattin und Mutter ist Anlaufstelle für sämtliche Klagen und Trösterin in jede Richtung. Sie rät zu Disziplin, derweil ihre Kinder gerade wieder einem Internat entfliehen. Und sie moniert nachsichtig den Drogenkonsum ihres Sohnes Klaus und ermutigt ihn zum Schöpferischen. Die Mutter träufelt Balsam in manchen Zornesausbruch der furiosen Erika: "Vor allem stehe ich auf dem Standpunkt, daß man einem Menschen, den man hoch schätzt, Dinge, die man mißbilligt, nachsehen muß, so lange es sich nicht um eine Niedertracht handelt." Solange die Mutter lebt, mögen die Kinder oft gedacht haben, kann uns nichts Böses geschehen. Katia Mann versteht es - wie sämtliche Mitglieder der Familie - Einfühlung und Sprache glänzend miteinander zu verbinden. Wie als Stichwortgeberin für den "Zauberberg" des Gemahls teilt sie ihm von einer Soiree im Sanatorium mit: "In der vorderen Reihe sitzen die Lungensträflinge, zum Teil gräulich hustend. Zum Schluß wurde noch von vier Männern auf einer Bahre hoch über den Köpfen hinweg unter Hallo einer gebracht und hingelagert. Man muß bei so einer Heilstätte unbedingt an ein Lungenzuchthaus denken."

Tilmann Lahme, Holger Pils und Kerstin Klein (Hrsg.): Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 720 Seiten. 24,99 Euro. E-Book 22,99 Euro. (Foto: verlag)

Von seiner Frau, mit ihrer unverbrüchlichen Treue und Tapferkeit, musste Thomas Mann jedoch auch erfahren: "Ich habe hier viel Zeit zum Nachdenken, und da denke ich doch manchmal, daß ich mein Leben nicht ganz richtig eingestellt habe, und daß es nicht gut war, es so ausschließlich auf Dich und die Kinder zu stellen. Aber nun schon genug und übergenug davon."

Man beglückte und frustrierte einander unaufhörlich, und der Kitt des Clans hielt.

Aus den teils bisher unveröffentlichten Briefen tritt uns - anders als oft kolportiert - Thomas Mann als durchweg besorgter Vater entgegen. Man spürt, wie er sich der eigenen Arbeit entwindet, um Golo aufzumuntern: "In Wahrheit, Du kannst gar nicht oft genug von Dir hören lassen, ganz gleich, in welcher Laune es geschieht, und ob Du wesentlich Neues zu sagen hast." Nicht minder aufmerksam klingt der Zuspruch an Klaus nach der Lektüre von dessen Roman "Der Vulkan": "Also denn: ganz und gar durchgelesen und zwar mit Rührung und Heiterkeit, Genuß und Genugtuung und mehr als einmal mit Ergriffenheit. Sie haben Dich ja lange nicht für voll genommen, ein Söhnchen in Dir gesehen und einen Windbeutel, ich konnt es nicht ändern. Aber es ist nun wohl nicht mehr zu bestreiten, daß Du mehr kannst, als die Meisten." Eine mühsame Nachsicht kennzeichnet noch Thomas Manns Reaktion auf Monika Manns literarische Hervorbringungen: "Deine ,Gedanken' sind ja ein feines lyrisches Stückchen, etwas dünn wohl, aber oft nicht ohne Reiz und von ganz stimmungsvollem Tonfall. Mit der Rechtschreibung und Grammatik stehst Du nicht durchaus auf bestem Fuß. Fror (von frieren) schreibt man nicht mit h, und ,beschwörte' sagt man auch nicht, sondern ,beschwor'."

Die Kaskade von Briefen unterschiedlichster Thematik und Couleur gliedert sich, grob gesagt, in drei Epochen. Zunächst ist da die lustvoll abenteuerliche Zeit der Weimarer Republik, als der Nobelpreisjubel und die Welterkundungen der Kinder sich vermischten. Man bekommt den Eindruck einer Familie als Zirkus mit Festbeleuchtung, und im Hintergrund sorgt der "Herrpapale" für das finanzielle Fundament. Von 1933 bis in die Fünfzigerjahre dann bestimmen die Fährnisse des Exils die Mitteilungen der Manns. Es bleibt bewundernswert, wie äußerlich gefasst die Familie ihre Enteignung in Deutschland, die Ausbürgerung, das Hin und Her über den Atlantik bewältigte. Katia teilt Klaus unverdrossen mit: "Wir verarmen nun natürlich völlig. Bis zum Juli bist Du ja bekanntlich abgefunden. Und damit holla!"

Nach dem Krieg reist Klaus nach Deutschland und findet sein Elternhaus verwüstet vor

Der Abscheu vor der Nazi-Diktatur und die Gewissheit, dass sie nach furchtbarem Grauen untergehen wird, war den Familienmitgliedern wie eingeboren. Alle informierten einander über ihre Aktivitäten und Gedanken zu dem Inferno, das durchzustehen war. Bedrückt richtet der Vater an Golo die Frage: "Und ist denn ein rasches Ende des Krieges, das wesentlich alles beim Alten ließe, auch nur zu wünschen? Nur für Deutschland allerdings ersehnt man die Verwilderung, so weit als sie notwendig ist, damit Bruder Hitler das verdiente Ende findet." Erika Mann, die temperamentvollste Stimme im Familienoktett, äußerst ihr Kriegsgrauen anders: "Gott verdürbe sich seine Biographie, ließe er zu, dass Europa, um des kranken Tieres Willen, verblutete."

Sehr eindrucksvoll sind die Schilderungen von Erika und Klaus, die als Journalisten sofort nach Kriegsende das zerstörte Deutschland erkunden. Klaus findet, vier Jahre vor seinem Freitod, sein Münchner Elternhaus verwüstet vor und berichtet schockiert von einem Besuch bei Richard Strauss: "Das Erstaunlichste daran ist, daß ein Mann von so außergewöhnlichem Talent moralisch derart abgestumpft und empfindungslos sein kann. Er hat noch nicht einmal die Entschuldigung seiner Senilität, denn er wirkt auffallend gut erhalten und rüstig."

Kleinliche Moral sei für kleine Leute, fanden diese freien Familiengeister

Nach dem Tod Thomas Manns 1955 tritt der Briefwechsel in seine Schlussphase ein. Es gilt nun, das Werk des Zauberers gewinnbringend lebendig zu erhalten. Die Geschwister debattieren über angemessene Publikationen. Dabei maßregelt Erika aufs Schärfste Monika und deren Erinnerungskult: "Niemand zwingt Dich, Sachen zu erzählen, an die Du Dich nicht erinnerst, oder die Dir reizvoller erscheinen, wenn sie der Wahrheit nicht entsprechen." Die oft wegen ihres Phlegmas gescholtene Monika bringt ihrerseits den Generationenradau, der das Haus Mann prägte, auf den Punkt: "Wir Mittelalten haben es schwer. Ihr Alten steckt in festem Grund, der unsere war schon locker. Die Jungen wiederum sind immun, gemacht für das Heute, das Euch nur ein Nach- und Gaukelspiel ist, uns aber Realität."

Der Briefwechsel ist vielerlei: Ein fulminanter Familienroman, ein Epochenbild und ein sprachliches Feuerwerk. Die Schreiben haben die drei Herausgeber, Tilmann Lahme, Holger Pils und Kerstin Klein, so ausgewählt, dass sich Themenkreise jeweils runden. Der Anmerkungsteil besticht durch seine Gründlichkeit. In ihrer Post lebt die "amazing familiy" frisch auf und entzückt allein schon durch ihre Anreden wie "Frau Schatz", "Gololo" oder "Golette", "Starker Vater, schöne Mutter" und "Dulala" für Elisabeth Mann. Untereinander bezeichnete man sich munter als homosexuell oder "Buhle aus Lesbien". Kleinliche Moral war für kleine Leute.

Die Manns beschäftigte, nach Maßgabe des Vaters, Bedeutenderes: "Aber schließlich, zu erben muß man auch verstehen, erben, das ist am Ende Kultur." Ein einmaliges und faszinierendes Erbe ist, in ihrem Vielklang, diese Korrespondenz.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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