Deutsche Literatur:Körperkunde

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Georg Kleins "Miakro", für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, ist ein Abenteuerroman, mit heißen Ohren zu lesen. Aber das größte Abenteuer darin ist die Sprache. Sie bringt eine Welt hervor, die es ohne sie nicht gäbe.

Von Thomas Steinfeld

Wer im Geiste je die "Nautilus" bestieg, um auf diesem geheimnisvollen Unterseeboot die Feinde der Menschheit zu versenken, weiß, dass er sich keineswegs nur aus Begeisterung für die außerordentlichen Eigenschaften Kapitän Nemos durch die Seiten treiben ließ. Das Fahrzeug, dessen Einrichtung und technischen Eigenschaften, die Unterwasserwelt, die vor den Bullaugen vorbeizieht, die Riesenkraken und das versunkene Atlantis: Das alles ist interessanter als die Frage, ob es das verborgene Verlangen nach Rache war, das den Kapitän auf seine lange Reise schickte. Alle wahren Abenteuerromane sind von dieser Art: Wenn der (meist jugendliche) Leser seinen Blick durch die Seiten jagt, mag es zwar auch so sein, dass er im Helden der Geschichte sich selbst zu erkennen meint. Aber stärker als das Motiv der Selbstfindung im Anderen ist die Neugier auf eine fremde Welt, in die man sich als Leser mischt, in begieriger Erwartung der Überraschungen, mit denen schon für das nächste Kapitel zu rechnen ist.

Glasarchitektur ist ein Symbol von Offenheit und Transparenz: Wer in der GLASHALLE der Leipziger Buchmesse sitzt, soll nicht mit Steinen der Intoleranz werfen. (Foto: Job Wouters)

Eine Neigung zum Abenteuerlichen zieht sich durch alle großen Bücher Georg Kleins, von "Libidissi" (1998), einer Art Agentengeschichte in vage orientalischem Milieu, bis zum Roman "Die Zukunft des Mars" (2013), der von einer verloren gegangenen Kolonie auf einem anderen Planeten handelt. Die fremden Welten scheinen dabei räumlich und zeitlich oft so entlegen zu sein, dass man sich der "Science Fiction" nahe wähnt. Mit Wissenschaft im landläufigen Sinne haben Georg Kleins Erfindungen indessen nur wenig zu tun, um so mehr aber mit einer utopischen Körperkunde. Das gilt in besonderem Maße für das Buch "Miakro", Georg Kleins jüngsten Roman. Die Geschichte spielt in einer Welt, in der es nicht nur Klappmesser, Süßkartoffeln und Glasfassaden gibt, sondern auch "Schockstöcke" und "Raupenroboter". Eine kriegerische Katastrophe ist offenbar über diese Welt hinweggegangen und hat eher Disparates zurückgelassen. Das eigentlich fantastische Element in dieser Welt aber ist biologischer Art.

Ein Mann verschwindet, und es bildet sich eine kleine Expedition, um ihn zu bergen

Eine Gruppe von Männern lebt und arbeitet in einem "Mittleren Büro". Sie schlafen in Kojen, die Ausbuchtungen in einer auf kaum fassliche Art lebendigen Wand zu bilden scheinen. Sie verbringen ihre Tage an Monitoren oder Bildtischen aus geschichtetem "weichem Glas", die offenbar ebenfalls mit einem eigenen Leben ausgestattet sind. Ihre Speise dringt aus dem Gewebe heraus, das ihre kleine Welt umfängt. Und was sie darüber hinaus zum Leben brauchen - Overalls, Seife, Tafelschokolade - wird ihnen gleichermaßen durch den Organismus zugeteilt, der ihre kleine Welt bildet und umfasst. Eine Art Gebärmutter scheint diese dichte Hülle zu sein, ein geschlossenes Wesen, das die darin befindlichen Männer, entmännlicht alle miteinander, schützt und versorgt. Das Abenteuer beginnt mit dem Auszug aus dieser Geborgenheit: Das lebendige Gewebe entpuppt sich als für seine Bewohner potenziell gefährlich, ein Mann verschwindet, und es bildet sich eine kleine Expedition, ihn zu bergen oder gar zurückzuholen.

Georg Klein: Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018. 334 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro (Foto: verlag)

So nimmt das Abenteuer seinen Weg, hinaus aus der bekannten, verlässlichen inneren Welt, hinein in das Fremde und Unberechenbare. Doch wo Jules Vernes Utopie aus Eisen und Nieten geschlagen ist, besteht Georg Kleins fremde Welt aus weichen Massen. Draußen warten nicht nur Gefahren, plötzliche Abgründe zum Beispiel oder die diebischen Frauen des "Volkes", sondern auch Erkenntnisse zur Beschaffenheit der eigenen Lebenswelt: "Etwas Ungesehenes wollte Gestalt annehmen." Irgendwie insektenhaft muss das Wesen sein, das die Lebenswelt des "Mittleren Büros" in sich barg, und auch irgendwie mit Intelligenz ausgestattet. Die Menschen verändern sich auf dem Weg hinaus. Manch einer wächst im Abenteuer, und er bekommt einen Bart, manch einer schrumpft und verliert seine Autorität. Und plötzlich, kurz nach der Mitte des Buches, wendet sich die Geschichte. War die eine Welt im Büro zu Hause, in einer in jeder Beziehung neutralisierten Umgebung, ist die andere nun kämpferisch, ja militärisch geprägt, allen voran durch die Befehlshaberin, Frau Fachleutnant Xazy. Von außen arbeitet sich daraufhin eine nicht nur ähnliche, sondern spiegelbildliche Gruppe nach innen. Selbstverständlich begegnen sich die Trupps am Ende, und sie tun es auf, wie es sich gehört, wiederum überraschende Weise.

Immer wieder geschieht es dem Leser, dass er einen Hinweis auf eine außerhalb der Geschichte liegende Realität zu erkennen meint, ein Indiz, dass ihm erlaubt, das Geschehen im Roman als Allegorie zu identifizieren. Ist die Gebärmutter nicht eine Art avancierter Sozialstaat? Oder ist nicht das Spiel mit der "Science Fiction" auch ein Reflex auf das Glücksversprechen, das die Lektüre von Abenteuergeschichten für einen Heranwachsenden (und nicht minder: einer Heranwachsenden enthielt), eine Erinnerung an überlange, mit heißen Ohren vollzogene Lektüren, in denen das Gelesene aufhörte, ein Außen zu sein, das man sich langsam aneignete, sondern sich dem enthusiastischen Leser als eine Art begehbarer Landschaft, ja beinahe als etwas Eigenmächtiges, ja als Subjekt darstellte, gar nicht unähnlich dem Wesen, das in "Miakro" die bewohnbare Welt darstellt?

Selbstverständlich gehen solche Vergleiche nicht auf, nicht vollständig jedenfalls. Aber es wäre zu erwarten, dass Georg Klein, der kluge Autor, diese Möglichkeiten bedacht, geplant hat - und absichtlich hintertreibt.

Hier muss sich der Leser auf eine Welt einlassen, die durch Dichtung erst entsteht

In diesem Buch wird nichts Vorhandenes beschrieben. Alles, was darin erscheint, die Menschen wie die Apparate, die Schlafkojen wie die "Nährflure" wird schreibend erbaut, aus Sprache und auf eine Art, die im Wort "Miakro", dem Titel des Romans, programmatisch enthalten ist: als ein Versprechen, demzufolge, wie Walter Benjamin in einer Notiz mit dem Titel "Lesendes Kind" schrieb, "die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen" seien. Die Sprache selbst ist hier das abenteuerliche Fremde, sie bildet eine eigene Wirklichkeit: "Noch wirkt das Wesen vor sich hin. Es bildet, es bildet sich, indem es anderes bildet. Es bildet nach und bildet um und um. Es spricht zu sich und spricht darin zu uns." Im Text gemeint scheint jener alles umfassende und alles durchdringende Organismus zu sein, der offenbar manchmal als eine Art Gebärmutter fungiert. Doch gelten diese Sätze auch für den Organismus, aus dem Romane hervorgehen, für die Sprache.

"Miakro" ist ein außerordentliches Buch, dem man sich zwar mit erwachsenem Verstand nähern muss, das aber eine Art des Umgangs mit Literatur erfordert, die sich zumindest zu erinnern vermag an die kindliche Lektüre, an ein Lesen, in dem man sich dem "Treiben des Textes" (Walter Benjamin) anheimzugeben vermag. In der zeitgenössischen deutschen Literatur gibt es nichts, was man in dieser Hinsicht mit den Romanen Georg Kleins vergleichen könnte. Man müsste auf Älteres zurückgreifen, auf Franz Kafkas Parabel vom "Bau" vielleicht, auf Stanislaw Lems Expeditionen an die Ränder des Begreifens, man muss das Echo der Welt vergessen können und sich, in jeder Beziehung, auf etwas Neues einlassen: auf eine Wirklichkeit, die durch Dichtung überhaupt erst entsteht, manchmal schillernd düster, manchmal hell aufleuchtend, immer aber beglückend gegenwärtig.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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