Deutsche Literatur:Gefrorenes Privatmeer

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Von Braunkohle erleuchtet: Jörg-Uwe Albigs geologisch fundierte Novelle "Eine Liebe in der Steppe".

Von Jörg Magenau

Das Motto des Ethnologen Georges Devereux gibt die Richtung vor: "Der Mensch reagiert auf die Stummheit der Materie mit Panik." Die Stummheit der Dinge zu durchdringen und sie zum Sprechen zu bringen, ist das Ziel von Jörg-Uwe Albig. Vielleicht ist die Sprache diese Novelle deshalb so seltsam erlesen, leblos, und aus Fundstücken aus "asthenosphärischen Tiefen" zusammengesetzt, dass die einzelnen Sätze sich wie Kontinentalplatten übereinanderschieben. "Platten hoben und senkten sich, rieben sich aneinander, höhlten sich aus, warfen Gebirge auf." So beginnt die Novelle, so hochtönend geht es weiter, auf diesem Sprachboden bewegen wir uns.

Ort der Handlung ist die fiktive ostdeutsche Kleinstadt Zinnroda, die irgendwo in einem Braunkohle-Tagebaugebiet liegt, wo die Erde mehrfach umgepflügt worden ist und die verbliebenen Plattenbauten nach und nach "rückgebaut" werden. In dieser Abrissregion, die aus nichts als Überresten der Erdgeschichte und der jüngsten Vergangenheit besteht, arbeitet der Paläontologe Gregor Stenitz. Zukunft ist für ihn etwas, was unvermeidlich ist, "und was man deshalb auch gleich hinter sich bringen" kann. Nur als dinghaft gewordene Vergangenheit ist Zukunft für ihn erträglich.

Jörg-Uwe Albig. (Foto: Rolf Wegner)

Die Dinge in ihrer Dauer sagen ihm mehr als die Menschen, in denen er nichts anders sehen kann als flüchtige Erscheinungen auf Proteinbasis. So nimmt es dann auch nicht Wunder, dass er die Museumspädagogin Judith verlässt, weil er einer Sache, einem Ding verfällt. So seltsam es klingt: Er verliebt sich in eine Kapelle, die als letztes Mahnmal einer untergegangenen Moderne in der "Steppe" steht und die er zunächst auch so nennt: "das Ding".

Man kann ein Gebäude lieben, aber das Gebäude liebt nicht zurück. Das wird zum Problem

Ein Liebesroman also, oder vielmehr die Geschichte einer Obsession. Nie ist Beton so zärtlich berührt worden wie hier, und wenn diese Zuneigung leblos bleibt, dann ist das ja gewissermaßen Programm. Jörg-Uwe Albig baut seine Romane stets als Versuchsanordnungen, in denen er gewohnte Verhältnisse umkehrt. So erzählte er in seinen bisherigen Büchern vom Anschluss Westdeutschlands an die DDR oder von deutschen Migranten in einem China der Zukunft oder, zuletzt, in dem Roman "Ueberdog", von Obdachlosen als der neuen High Society. Dieses Mal geht es darum, die Liebe in einer Laborsituation zu isolieren, die toten Dinge zu beseelen und umgekehrt seelische Vorgänge im Menschen als hormonelle Reaktionen zu denunzieren.

Das führt zu einer planmäßigen Erstarrung der Sprache, so dass diese "Liebe in der Steppe" am Ende selbst zu einem toten Ding wird, das man als Leser zunächst staunend, dann befremdet, schließlich aber nur noch gelangweilt betrachtet. Wenn Liebe, wie Gregor vermutet, wirklich nur "ein höherer Ruf der Hormone" wäre, müsste man sich dafür ja gar nicht interessieren. Aber was ist dann die Liebe zu einem Gebäude? Die Begegnung zwischen Mensch und Kapelle tritt notwendigerweise und buchstäblich auf der Stelle.

Deshalb baut Albig einen zweiten, der Kapellen-Obsession korrespondierenden Handlungsstrang ein. In den Nächten begleitet Gregor (der nicht zufällig so heißt wie der zum Ungeziefer mutierte Gregor Samsa) seine Freundin Judith und den "Le Betram" genannten Anhänger der architektonischen Le Corbusier-Moderne auf ihrem guerillahaften Kleinkrieg gegen den Abriss. Sie fackeln einen Bagger ab, fahren einen Kran in den Fluss, bis sich herausstellt, dass "Le Bertram", einst Arbeiter im sozialistischen Betonplattenwerk, heute bei der Wohnungsverwaltungsgesellschaft angestellt ist und tagsüber dafür sorgt, die Mieter loszuwerden.

Jörg-Uwe Albig: Eine Liebe in der Steppe. Novelle. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017. 176 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro. (Foto: N/A)

Das Problem mit der Liebe zu einem Gebäude ist offensichtlich. Alles darin ist Übertragung. Die Dinge antworten ja nicht - oder eben nur das, was wir in sie hineinlegen. Die Kapelle ist nichts als Symbol und als solches starr. Sie steht für die Überreste des Heiligen in einer säkularen, finster nihilistischen Welt. Sie ist zudem mit ihrer verschlossenen Pforte, dem uterusartigen Innenraum und ihrem geheimnisvollen Schweigen ein Sinnbild uneinnehmbarer Weiblichkeit, in dem der Pfarrer mit seinem speckigen Kragen und die letzten verbliebenen Gottesdienstbesucher zu Nebenbuhlern um die Gunst der Geliebten werden. Gregor nennt die Kapelle St. Maria Magdalena bald nur noch Magdalena und schließlich zärtlich "Madeleine", als müsse sie auch noch die Erinnerung an das Proust'sche Gebäckstück tragen. Mehr kann sich daraus aber auch nicht entwickeln. Zu einer Liebesgeschichte fehlt diesem Setting die Umkehrung. Man kann ein Gebäude lieben, aber das Gebäude liebt nicht zurück. Doch erst wenn der Geliebte sich selbst in einen Liebenden verwandelt, könnte sich daraus ein lebendiger Prozess, also etwas Erotisches entwickeln.

Vielleicht betreibt Albig deshalb einen so gewaltigen sprachlichen Aufwand mit Sätzen, die ihm schon beim Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt von der entnervten Jury um die Ohren geschlagen wurden, weil man sie ohne Lexikon nicht verstehen kann: "Nicht einmal Atem erschütterte den kalzitisierten Chitinpanzer seiner Muskulatur." Oder: "Er fühlte sich geborgen in dieser amniotischen Welt, seinem nährenden Privatmeer, das eine feste Schale umgab." So versteinert mit der Figur auch die Sprache, die vor lauter "wie"-Vergleichen überquillt: "Er sog die Luft ein, die dick war wie Dotter."

Zur allgemeinen Erstarrung trägt zudem der unerschütterliche Tonfall des auktorialen Erzählers bei. Keine Regung bleibt dessen Allwissenheit verborgen, jede kleinste Gemütsbewegung wird aufgespießt wie ein totes Insekt. Doch alles ist nur Behauptung, weil ja nichts aus sich heraus leben darf. Zum Glück gibt es hin und wieder Anzeichen für Witz und Ironie, so etwa, wenn der "Rückbau" der sozialistischen Wohnwelten mit der Zerstörungswut des "Islamischen Staates" in Palmyra verglichen wird oder ein Hund gekränkt zurückschaut, als hätte er mehr Gefühle als sein Herrchen.

Gregor aber bleibt unerlöst. Sein Tanz auf den Kontinentalplatten der kosmologischen Gegenwart verläuft ergebnislos. Als er am Ende mit zahlreichen Knochenbrüchen im Krankenhaus liegt, "hatte Gregor noch immer kein Gefühl von Schmerz". Das ist bedauerlich. Denn auch als Leser hat man jegliches Gefühl verloren. Falls das die Absicht von Jörg-Uwe Albig gewesen sein sollte, ist ihm das recht gut gelungen.

© SZ vom 11.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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