Deutsche Literatur:Gefährliche Moleküle

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Gila Lustiger hat bisher über jüdische Schicksale in der NS-Zeit geschrieben. "Die Schuld der anderen" ist ihr erster Kriminalroman.

Von Kristina Maidt-Zinke

Der Titel flirtet offensiv mit dem eines oscargekrönten deutschen Kinofilms, und man wird künftig achtgeben müssen, hier nichts zu verwechseln. In Gila Lustigers Roman "Die Schuld der Anderen" geht es allerdings um andere Tatbestände, andere Schuldverstrickungen - es geht um "französische Verhältnisse", wie der Umschlagtext mitteilt, darin wiederum auf einen erfolgreichen deutschen Bretagne-Krimi anspielend. Was sich einmal bewährt hat, wird heute gern als Zaunpfahl zum Winken recycelt.

Mit dem Stasi-Film "Das Leben der Anderen" hat das Buch immerhin gemeinsam, dass es reale Ereignisse fiktionalisiert, einen Stoff von hoher politischer und ethischer Brisanz in ein populäres Genre kleidet. Die Autorin, Tochter des deutsch-jüdischen Historikers Arno Lustiger und seit dreißig Jahren in Paris ansässig, hat in früheren Büchern jüdische Schicksale im Dritten Reich und die eigene Familiengeschichte thematisiert; jetzt legt sie ihren ersten Kriminalroman vor.

Marc Rappaport mag die Brasserie Lipp und macht Jagd auf die bösen Jungs in den Chefetagen

Die Art, wie sie Dokumentation, Fiktion und Reflexion zueinander ins Verhältnis setzt, lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass der spannende Plot nur als Vehikel dienen soll, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen bloßzulegen und moralische Fragen zu verhandeln. Dass die jüdische Identität auch hier wieder eine Rolle spielt, wirkt nicht plakativ, sondern macht die Hauptfigur, einen Ermittler-Helden der melancholischen und eigenbrötlerischen Sorte, nur noch ein wenig interessanter.

Das Hauptquartier des Ermittlers Marc Rappaport. Von hier aus hat er Paris im Blick. (Foto: Veronique DURRUTY/RAPHO/laif)

Marc Rappaport, ein Mann um die vierzig, entstammt väterlicherseits dem jüdischen Intellektuellenmilieu, mütterlicherseits einer französischen Industriellenfamilie, deren Reichtum der Großvater teilweise als "Kriegsgewinnler" in Afrika erwirtschaftet hat. Der Enkel hat politische Wissenschaften studiert und arbeitet als Journalist, spezialisiert auf Enthüllungsgeschichten aus der Sphäre, der er sein komfortables Leben verdankt: die Jugend in Neuilly, die Ausbildung an den Schulen und Hochschulen der Elite, den Platz im Aufsichtsrat der Familienfirma, die mietfreie Dreizimmerwohnung, das regelmäßige Déjeuner in der Brasserie Lipp. Der vergrübelte Einzelgänger ist sich dieses Widerspruchs wohl bewusst, möchte aber weder von den ererbten Annehmlichkeiten lassen noch von seinem Drang, die Machenschaften "böser Jungs" in den Chefetagen der einflussreichsten Unternehmen ans Licht zu bringen: Wirtschaftskriminalität, Steuerdelikte, Geldwäsche, Waffenhandel, Umweltskandale.

Die Meldung über die Aufklärung des fast dreißig Jahre zurückliegenden Mordes an der jungen Prostituierten Emilie Thevenin fällt also gar nicht in sein Fach. Seine Witterung für Ungereimtheiten aber lässt ihn an der Schuld des durch DNS-Analyse überführten Verdächtigen zweifeln und setzt ihn auf die Spur eines viel größer dimensionierten Verbrechens, das er nun, zunächst gegen den Widerstand seines Freundes und Chefredakteurs Pierre, auf eigene Faust untersucht. Er recherchiert in der Kleinstadt Charfeuil, in der das Mordopfer aufgewachsen ist, und stößt auf Zusammenhänge zwischen der nur scheinbar persönlich motivierten Tat und einem Chemie-Skandal, dessen Ausmaße und Folgen durch den Verursacher-Konzern und die staatlichen Verantwortungsträger über Jahrzehnte vertuscht worden sind.

Was wie ein etwas formelhaft ausgeklügelter Ökothriller anmuten könnte, geht auf einen realen Fall zurück: 1981 wurde beim Futtermittelhersteller Adisseo (der im Buch Nutrissor heißt) die Substanz Chloracetal C5 eingeführt, mit der sich Vitamin A kostengünstig synthetisieren lässt. Dass es sich um einen erbgutverändernden und karzinogenen Stoff handelt, war dem Betriebsmediziner bekannt. Es kam zu einer Häufung von Krebsfällen unter den Arbeitern, erst spät, nach einer journalistischen Enthüllungskampagne, wurde ein Teil der Erkrankten entschädigt. Chloracetal C5 ist noch heute im Gebrauch.

Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2015. 494 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 16,99Euro. (Foto: Verlag)

Das durch Profitgier einerseits und Angst vor Arbeitslosigkeit andererseits stabilisierte System aus Korruption und Verschleierung, Gefälligkeiten und Gewaltmaßnahmen, das Marc Rappaport aufdeckt, ist also keine Erfindung von Gila Lustiger. Unumwunden bedankt sie sich am Ende bei ihren Informanten, zu denen Betroffene ebenso gehören wie Wissenschaftler, Journalisten und die Kriminalpolizei. Für die Erzählung der haarsträubenden Geschichte hat sie zuvor eine geschickte Balance zwischen Dokumentation und Reißer gefunden, mit plausiblen Charakteren und atmosphärisch starken Momenten - auch wenn das Lektorat an der Sprache noch etwas hätte feilen dürfen.

Dem Chemie-Skandal des Romans liegt ein realer Fall zugrunde

Jedenfalls bleibt die Handlung, zu der natürlich auch ein Schuss Erotik und Beziehungsstress gehört, jederzeit transparent für Lustigers eigentliches Anliegen: ein Porträt der französischen Gegenwartsgesellschaft zu zeichnen, in der die Verflechtungen von Geld und Macht, der Primat der Ökonomie vor der Politik und die wachsende Kluft zwischen Herrschenden und Randständigen wiederum globale Konstellationen abbilden.

Es versteht sich, dass die Zustände in den Banlieues, die zu Brutstätten eines neuen, aggressiv antisemitischen Islamismus geworden sind, in diesem Panorama nicht fehlen dürfen. Marc Rappaport, hochreflektierter Held, der er ist, stellt einen Zusammenhang her zwischen den perspektivlosen jungen Gewalttätern und skrupellosen Konzernchefs, die aus Habsucht über Leichen gehen: Beide entfernen sich von der Zivilgesellschaft, indem sie sich, "umgeben von anderen Subjekten, allein als Subjekt wähnen". Dass solche Diagnosen und deren moralische Implikationen sich in den Kriminalroman verlagern, ist kein ganz neues Phänomen. Die Gefahr, dass sie durch das Bündnis mit der Genreliteratur ihre politische Sprengkraft verlieren, nehmen viele Autoren gern in Kauf.

Das Zitat von Karl Marx, das Gila Lustiger ihrem Buch vorangestellt hat, lässt sich auch auf sozialkritisches Engagement in Thrillerform anwenden: "Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde . . . wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde." Solange wir damit nur den Buchhandel meinen, bleibt vielleicht ein Rest Hoffnung.

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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