Deutsche Literatur:Fasching im Orientexpress

Lesezeit: 4 min

"Die Orientmission des Leutnant Stern": Jakob Hein versucht sich an einem historischen Roman über die Nebenschauplätze der historischen Beziehungen zwischen Preußen und der Türkei, der auf dem Weg zum Sachbuch liegen geblieben ist.

Von Jörg Magenau

Es gab eine Zeit, in der Deutschland sich vor dem Dschihad nicht fürchtete, ganz im Gegenteil. Zur Kriegsstrategie des Kaiserreiches gehörte es, die islamische Welt gegen die französischen und englischen Kolonialherren aufzuhetzen, damit der erhoffte große muslimische Aufstand den deutschen Sieg in Europa begünstigen möge. Wilhelm II. hatte schon 1898 auf einer Reise in den Orient verkündet: "Mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde zerstreut leben, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird." Der Kaiser hätte die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, wohl mit "Ja" beantwortet - wenn auch nur aus taktischen Gründen. Die politischen Folgen waren weitreichend, sie führten unter anderem dazu, dass muslimische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg äußerst freundlich behandelt wurden. In Wünsdorf, südlich von Berlin, entstand das "Halbmondlager", in dem es nicht nur gute Verköstigung gab, sondern auch die erste Moschee, die in Deutschland je gebaut wurde.

Mag sein, dass die aktuellen Glaubenskriege, Dschihadisten und deutsche Jugendliche, die sich dem IS anschließen, dazu beigetragen haben, dieses Thema seit ein paar Jahren stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit zu rücken. Steffen Kopetzkys Roman "Risiko" handelte von einer bizarren Afghanistan-Expedition im Dienste dieser dschihadistischen Aufwiegelungsbemühungen. Erst im vergangenen Herbst legte der Historiker David Motadel mit "Für Prophet und Führer" eine umfassende Studie zur deutschen Islampolitik von 1914 bis 1945 vor und zeigte, wie die Nationalsozialisten die Strategie des Kaiserreiches fortsetzen.

Eine Kriegsstrategie sah die Sprengung des Suez-Kanals vor

Dass diese Politik nicht aufging, hatte auch mit der preußischen Ahnungslosigkeit zu tun, wie kompliziert und in sich zerklüftet die Machtverhältnisse in den arabischen Ländern und im osmanischen Reich gewesen sind. Muselmann war halt nicht gleich Muselmann. Der erhoffte Dschihad jedenfalls blieb aus, weil der türkische Sultan, der ihn ausrief, nicht das nötige Gehör fand und auch die, die ihm zujubelten, dann doch lieber zu Hause und im Frieden blieben.

Der Berliner Schriftsteller Jakob Hein hat nun eine weitere Episode aus diesem Kontext zum historischen Roman ausgearbeitet. Damit wechselt er, der bisher eher für das Komische zuständig gewesen ist, das Ressort, ohne dabei jedoch seinen Sinn für Komik zu verlieren. "Die Orient-Mission des Leutnant Stern" erzählt eine sogenannte "wahre Geschichte". Der durchaus frankophile Edgar Stern, ein aufgeklärter Mann mit jüdischem Namen, der sich aber nicht als Jude empfindet, langweilt sich in seiner Kriegsstellung am Rhein so sehr, dass er dort auf eine geniale Idee kommt, wie der Krieg zu gewinnen wäre: durch Sprengung des Suezkanals. Die Pläne rufen zwar einige Aufmerksamkeit im Berliner Generalstab hervor, werden aber letztlich nicht umgesetzt. Stattdessen bekommt Stern den Auftrag, vierzehn muslimische Kriegsgefangene nach Istanbul zu bringen, um ihnen dort demonstrativ die Freiheit zu schenken und damit die deutsch-türkische Freundschaft zu festigen. Das Problem besteht jedoch darin, wie diese Männer per Zug durch Rumänien zu befördern sind, das kurz davor steht, sich den Alliierten anzuschließen.

Stern weiß auch hier, was zu tun ist. Wie in Edgar Allan Poes Erzählung "Der entwendete Brief" versteckt er seine Männer nicht etwa, sondern zeigt sie demonstrativ vor, weil das offen Gezeigte das am besten Versteckte ist. Er verwandelt die seltsame Reisegruppe in eine Zirkustruppe und staffiert sie mit möglichst fantastischen Gewändern aus, so wie man sich im Kasernengelände am Treptower Park in Berlin echte Araber und echte Artisten vorstellt. Hein erzählt das alles ein wenig slapstickhaft und bleibt damit vermutlich sehr nah an der Wirklichkeit. Da die Militärs sich eine Zirkustruppe nur soldatisch korrekt uniformiert vorstellen können, muss Stern eigens einen Schneider kommen lassen, um die Kostüme zu individualisieren und in Unordnung zu bringen.

Kapitelweise wechselt Hein die Erzählperspektive. Das ist unbefriedigend, weil die Figuren scherenschnitthaft und eher blass bleiben. Neben Stern - von dem man gerne mehr erfahren hätte, als dass er seine Heirat bis nach dem Krieg aufzuschieben entschlossen war - stehen zwei Marokkaner aus dem Atlas-Gebirge im Mittelpunkt, die von den Franzosen in ihrer maghrebinischen Heimat zwangsrekrutiert wurden und in den Schlamm und die winterliche Kälte der Schützengräben Flanderns gerieten. Die Gefangenschaft im Wünsdorfer Lager war für sie fast eine Wohltat; jetzt, wo sie zu Sterns Auserwählten gehören, könnte am Ziel ihrer Reise tatsächlich die Freiheit stehen. Daneben spielen der Diplomat Karl Emil Schabinger von Schowingen als dünkelhafter Aristokrat und der bürgerliche Emporkömmling Hans-Heinrich Dieckhoff eine Rolle. Als Figuren bleiben sie jedoch Staffage.

Deutlich aber wird der ganze Irrsinn des Unternehmens und die Skrupellosigkeit einer Strategie, die, weil sie die Türken als Bündnispartner braucht, großzügig über deren Vernichtungspolitik gegenüber den Armeniern hinwegsieht. In Istanbul brennen bereits die Häuser der Armenier, was die Mitglieder der deutschen Delegation großzügig übersehen. Da bewährt sich der leichte, süffisante Tonfall Heins, der gerade weil er das Komische im Blick hat, das Tragische des Geschehens spürbar werden lässt. Dass tatsächlich die Österreicher die schlimmeren Bürokraten waren als die preußischen Weltmeister in dieser Disziplin, ist ein tröstlicher Nebeneffekt der Lektüre. Zu lernen ist auch, dass Rassismus keineswegs immer mit Hass und Wutgebell in die Welt kommt, sondern in der Maske der Freundlichkeit. Wenn die Deutschen den marokkanischen Gefangenen als Leute begegnen, "die immerzu kamen, sie vermaßen, sie merkwürdige Kleidung anziehen ließen", dann ist das zwar komisch, lässt aber schon die nationalsozialistische Rassenpolitik erahnen.

Karl May hätte aus dieser Episode der Weltgeschichte eine schillernde Reisebeschreibung und ein großes Abenteuer gemacht, Landschaften geschildert und Menschen lebendig werden lassen. Hein verzichtet weitgehend darauf. Seine Geschichte ist seltsam karg, ganz so, als hätte er sich dem historischen Stoff zuliebe jegliche Ausschmückung verboten. Von der Reise kommen nur die Grenzübergänge und Passkontrollen zur Sprache. Auf einen peniblen Wiener Zollbeamten folgt ein tumber Ungar und schließlich ein eitler Rumäne, dem die eigene Unantastbarkeit wichtiger ist als mögliche Zweifel. Da gelingen ihm witzige Szenen. Doch zum großen erzählerischen Bogen findet er nicht. Es ist, als wäre er nach faszinierenden Recherchen auf halber Strecke zwischen Sachbuch und literarischer Umsetzung stecken geblieben.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: