Deutsche Literatur:Der Yukon im Keller

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Matthias Nawrats Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" durchmisst spielend leicht ein ganzes Jahrhundert polnischer Geschichte und belebt dabei ein altes Literaturgenre: den Schelmenroman. Und das gleich doppelt.

Von Nico Bleutge

Manchmal kann der Yukon ein glucksender Bach sein. Mit Gipfeln im Hintergrund, dem Geruch von Bäumen, Farnen und feuchter Erde - und einem Himmel darüber, der so blau ist, wie er es nur in den Bergen sein kann. Und doch befinden wir uns keineswegs in der kanadischen Provinz, sondern mitten in Polen. Oder genauer: in der Stadt Opole, und zwar in einer Seitenstraße, genauer noch im Keller eines Hauses, den man nur über eine steile Treppe vom Hinterhof aus erreichen kann. Doch sobald das Türglöckchen schellt, faltet sich eine Welt aus künstlichen Bergen, vor allem aber aus Rucksäcken, Wanderschuhen und Steigeisen auf.

Auch wenn er über einen sprachlichen Ton verfügt, der so eigen ist wie das Klingeln eines Türglöckchens, ähnelt der Schriftsteller Matthias Nawrat einem Stimmenimitator. Oder besser: einem Stimmenarrangeur. War es in seinem ersten Buch "Wir zwei allein" (2012) die Sprache der Romantik mit ihren Natur- und Liebesbildern, die er seinen Figuren anverwandelte, so ist es in dem kleinen Roman "Unternehmer" (2014) eine Art fantastischer Jugendslang, der auch die Fabriksprache der "Kupferspulen" und "Platinen" kennt. Dabei geht es dem 1979 geborenen Autor keineswegs darum, einfach nur Traditionsspeicher zu plündern oder platte Genreromane zu schreiben. Vielmehr verschmilzt er seine Funde zu ganz eigenen, ästhetisch aufgerauten Sprechweisen und nutzt sie geschickt für seine literarischen Ideen. Wer erzählt, und vor allem: mit welchen Affekten, Vorurteilen und ideologischen Verschiebungen das geschieht, steht als Frage immer im Vordergrund.

Der 1979 geborene Autor ist ein äußerst raffinierter Stimmenarrangeur

Für seinen neuen Roman hat Matthias Nawrat in den erzählerischen Reservoirs des Schelmenromans gestöbert. Nur dass der Schelm hier nicht allein auftritt, sondern einen Zwillingsbruder hat, vielleicht sogar: eine ganze Zwillingssippschaft. Ein nicht genauer bestimmtes "Wir" gibt die Perspektive vor, ein Wir, bei dem es sich um ein Geschwisterpaar handeln könnte oder um mehrere Brüder und Schwestern im Chor, die aus der Sicht der Enkel erzählen. Mag sein, Nawrat hangelt sich hier insgeheim an der eigenen Familiengeschichte entlang, mag sein, er verzwirnt die Fäden der Imagination stärker mit der vermeintlichen Wirklichkeit, als es dem Leser lieb ist - jedenfalls (eines von Nawrats Lieblingswörtern) markiert dieses Wir gleich zu Beginn, nicht aus der eigenen Fantasie zu schöpfen, sondern in die Rolle des Berichterstatters zu schlüpfen: "Und dann sagte unser Großvater, dass wir uns merken sollten, was er uns erzählt habe. Dass wir ab und zu an ihn denken, dass wir ihn und sein Leben in Erinnerung behalten, dass wir ja nichts vergessen sollten."

Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 416 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Doch bei genauem Hinsehen sind es nicht nur die Geschichten von Großvater Jurek, sondern auch die Geschichten von anderen Familienmitgliedern, die für das Erzählen von Bedeutung sind, der Großmutter, des Vaters, aber auch von Freunden und Bekannten. Und so tauchen wir ein in ein Gewebe aus beinahe einem ganzen Jahrhundert polnischer Historie, wobei die Fäden manchmal sogar bis ins Mittelalter zurückgespannt werden. Vom Warschau der Zwanzigerjahre geht es über den Zweiten Weltkrieg bis hinein in die Achtzigerjahre, von Generalfeldmarschall Józef Piłsudski bis zu Wojciech Jaruzelski mit seiner Hornbrille und zur Solidarność-Bewegung.

Die zeitliche Schicht, von der aus erzählt wird, ist die Nach-Wende-Zeit, der Beginn der Neunziger. So entsteht ein weiterer Verschiebungseffekt in der Wahrnehmung, zugleich wird die Möglichkeit angedeutet, bei dem erzählenden "Wir" könnte es sich um ein Ensemble von fast noch kindlichen Stimmen handeln. Was zunächst wie eine jener allzu oft gelesenen "naiven" Perspektiven anmutet, in denen von "Weltbegebenheiten" wie den "Problemen in einer kleinen Tierbucht in der Karibik" die Rede ist oder von einem "gewissen Juri Gagarin", verwandelt sich nach und nach in ein vielsträngiges erzählerisches Konstrukt.

Dass ein Sportgeschäft an den Yukon erinnern und der Yukon selbst wie ein Bach in der Hohen Tatra aussehen kann, verdankt sich dabei einem Phänomen, das einmal unter der Hand als "Umkehrung der Dinge" bezeichnet wird. Diese Umkehrung ist nicht nur Signum für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, es mag sich um das Warschauer Ghetto handeln, um Auschwitz oder das Spitzelsystem im kommunistischen Polen. Die Umkehrung ist auch die bevorzugte literarische Technik, mit der Nawrat seine Leser durch die Geschichten und die Geschichte führt.

So kann es im Polen unter Władysław Gomułka geradezu selbstverständlich sein, wenn in jenes paradiesische Warenhaus, das der Großvater eine Zeit lang leitet, nicht die gewünschten Delikatessen, sondern nachgemachte Husarenrüstungen aus dem 17. Jahrhundert geliefert werden, die dann auch noch - dank des Großvaters fantastischer Argumentationskunst - verkauft werden. Oder die Mitarbeiter des Geheimdienstes: Nie würden sie einen Verdächtigen zwingen, in den Katakomben des "Grauen Quaders" nach all den Befragungen auch noch über Nacht zu bleiben, vielmehr kommt der Gast am Ende ganz alleine auf die Idee, das "Übernachtungsangebot" der Beamten anzunehmen. Selbst ein einfaches Fußballspiel kann hier jenem Phänomen folgen, das man vielleicht noch allgemeiner als das der "paradoxen Weise" bezeichnen darf, von der an anderer Stelle einmal die Rede ist.

Als hätte Roberto Benigni Nawrat beim Schreiben über die Schulter geschaut

Doch die Umkehrung meint nicht nur ein Wenden der bekannten Denk- und Wahrnehmungsmuster in ihr Gegenteil. Eines der intensivsten Kapitel gilt der Zeit des Großvaters in Auschwitz. Als hätte ihm Roberto Benigni beim Schreiben über die Schulter geblickt, lässt Nawrat seinen Jurek hier verständnisvoll "die pyjamaartige Arbeitskleidung" entgegennehmen und sich mit der "befristeten Arbeitsmaßnahme" arrangieren: "Man war, wenn man so wollte, als Leiharbeiter vom heimischen Betrieb abgezogen worden und würde für eine begrenzte Zeit hier vor Ort eingesetzt werden." Nur dass sein "La vita è bella" noch weiter geht. Immer tiefer dreht er die Schraube der Absurdität ins Gefüge des Textes ein, indem er verschiedene Geschichten gegeneinander setzt, mit Tautologien und Widersprüchen, mit semantischen Verschiebungen und kleinen Sprachspielen arbeitet. Bis am Ende so etwas wie eine Umkehrung der Umkehrung der Umkehrung vollzogen ist und alles infrage steht, auch die Rolle, die der Großvater in Auschwitz innehatte.

Nicht alle Teile des Romans haben diese dialektische Schärfe. Auch hat sich Matthias Nawrat mit seinen Schlusskapiteln keinen Gefallen getan, in denen er einige der erzählerischen Ideen, die so genau die Struktur vieler Sätze bestimmen, eigens herauspräpariert und auf Begriffe wie "umgekehrte Humoristik" bringt. Und doch gelingt es ihm, die Geschichten von Opa Jurek in all ihren sinnlichen Einzelheiten und erzählerischen Verschattungen aufzufalten. Zugleich entwirft er eine andere Art von Erinnerung, fern von den Vorstellungen der Historiker, fern auch von jenen Erinnerungsperlen, die für den polnischen Dichter Adam Mickiewicz "das baltische Wasser in seinem klaren Schoß / unter azurblauer Farbe auf Jahrhunderte bewahrt". Nawrats mit Klischees und Vorurteilen spielende Erinnerungssuche ist immer beweglich, sie will nicht plan von der Vergangenheit erzählen, sondern denkt um die Ecke, arbeitet mit Umkehrungen, Schleifen und kleinsten Volten. Hier lösen sich die überkommenen Zuordnungen auf - und Erinnerung und Geschichte zeigen sich als etwas, das immer bruchstückhaft ist, zugeschliffen, voller Fehlschlüsse und bisweilen großer Komik.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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